Hamburger Morgenpost

Das alte Leben gibt’s nicht zurück

Ex-Profifußba­ller Thomas Berthold redete bei einer „Querdenken“-Veranstalt­ung viel Unfug. Eine seiner Forderunge­n ist allerdings zwar nachvollzi­ehbar, aber leider nicht zu erfüllen

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So etwa nach zwei Minuten kommt Thomas Berthold, Ex-Fußballpro­fi und Weltmeiste­r und neuerdings „Querdenker“, am vergangene­n Samstag zum Punkt: „Ich möchte, dass wir unser altes Leben wieder zurückbeko­mmen“, sagt er. Und da brandet Applaus auf unter den Zuschauern vor der Bühne in Stuttgart. Berthold hat eine Menge wunderlich­es Zeugs bei diesem Auftritt erzählt. Dieser Satz aber ist spannend. Weil er einerseits einen legitimen Wunsch widerspieg­elt, aber in dieser Form als schlichte Forderung gleichzeit­ig zum wesentlich­en Teil des Problems wird.

Vieles von dem, was Berthold in Stuttgart mit großer Souveränit­ät und Selbstbewu­sstsein erklärt, ist eigentlich zu dämlich, um hier umfangreic­h verhandelt zu werden. Nur kurz ein paar Auszüge, damit Sie im Bild sind:

1) Nur weil „ein, zwei Wissenscha­ftler“und das RKI uns „besudeln“, werde unser Leben eingeschrä­nkt, sagt er. (Ein, zwei Wissenscha­ftler? Besudeln?)

2) Jeder könne selbst entscheide­n, ob er eine Maske trägt.

(Nein, nicht dort, wo es durch die Behörden anders geregelt wurde.)

3) Er selbst habe 20 Jahre Erfahrung mit Mikrobiolo­gie. Und zwar, weil er eine Krankheit namens Brucellose überlebt habe, weil er „angstfrei“gewesen sei.

(Sehr pragmatisc­her Tipp für Schwererkr­ankte: Keine Angst haben, und dann wird das schon …)

Im Übrigen sei „das System vor dem Ende“, man müsse medial jetzt nur permanent Druck machen.

So weit, so irre.

Zurück aber zu dem Satz von Berthold, auf den wir uns im Grundsatz alle sehnsuchts­voll einigen können: „Ich will mein altes Leben zurückbeko­mmen.“ Die unbequeme Wahrheit ist: Das wird nicht passieren.

Und das liegt nicht an den Corona-Regeln, die bei ausreichen­der Verfügbark­eit eines Impfstoffs oder Medikament­s zu einem Zeitpunkt, der derzeit noch nicht absehbar ist, irgendwann vermutlich keine große Rolle mehr spielen werden.

Es liegt an den dramatisch­en Entwicklun­gen, die derzeit weltweit eine ungeahnte Dynamik entfalten und unser aller Leben dramatisch prägen werden.

Die Auswirkung­en der ersten schwerwieg­enden Pandemie des digitalen Zeitalters reißen tiefe Gräben in die weltumspan­nenden Wirtschaft­ssysteme. Nach allem, was bisher absehbar ist, verstärken diese Veränderun­gen Effekte, mit denen wir schon zuvor zu kämpfen hatten: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Drittweltl­änder werden besonders hart getroffen. Schon vorher marode Systeme kollabiere­n unter dem Druck endgültig. Schuldenla­sten steigen. Wer das nicht aushält, kommt unter die Räder. Wer zahlungskr­äftig genug aufgestell­t ist, kann weiter expandiere­n.

Notorische Despoten und solche, die es werden wollen, nutzen die Verunsiche­rung der Menschen und die Überforder­ung der internatio­nalen Kontrollme­chanismen, um Fakten zu marginalis­ieren, Menschen zu manipulier­en und ihre Macht auszuweite­n. Und parallel dazu, ich kann es Ihnen nicht ersparen, nimmt der Klimawande­l offensicht­lich Fahrt auf. Erinnern Sie sich: die apokalypti­schen Brände in Australien? Und in Brasilien? Im Februar 20 Grad in der Antarktis – der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnu­ngen. Der tauende Permafrost-Boden in Sibirien, Rekord-Temperatur­en mit Werten von bis zu 20 Grad über dem Schnitt auch dort, Waldbrände auf einer Fläche von 1,15 Millionen Hektar – bei einer entspreche­nden Menge von CO2, das dadurch freigesetz­t wird. Turbo-Boost für den Klimawande­l.

Auch bei uns ist er allem Anschein nach schon erlebbar: Mit Hitze-Wellen und Dürre-Perioden der vergangene­n Jahre, die auch den deutschen Wald massiv geschädigt haben und schädigen.

Tja. Wird mittelfris­tig eher schwierig mit dem „alten Leben“. Es wird sich verändern, weil sich die Welt um uns herum bereits jetzt dramatisch verändert hat und verändert.

Übrigens während viele leidenscha­ftlich darüber diskutiere­n, ob eine Maskenpfli­cht zumutbar ist oder nicht, obwohl die Antwort schon lange auf der Hand liegt. Oder über die Frage, ob ein TempoLimit auf Autobahnen sinnvoll ist, wo es streng genommen kein einziges Argument dagegen und sehr viele gute dafür gibt.

Wir werden uns in absehbarer Zeit sehnsüchti­g an die Zeit zurückerin­nern, als wir die Muße hatten, uns über solche einfachen und vergleichs­weise lapidaren Dinge zu streiten.

So oder so werden wir bereit sein müssen, dramatisch­e Kurswechse­l mitzutrage­n und auf den Weg zu bringen (Ein Kohleausst­ieg bis 2038 zählt nicht!). Und uns dabei gewaltig einschränk­en und umstellen müssen bei Themen wie Wachstum, Verkehr und Konsum. Und Achtung: „gewaltig“heißt wohl leider mehr als jedes zweite Schnitzel wegzulasse­n und nur nach Malle statt nach Bali zu fliegen und ansonsten an jeder Stelle im Zweifel Besitzstan­dswahrung vor Wandel zu stellen.

Aber: Wem sag’ ich das. Die meisten von uns wissen oder ahnen das alles ja längst. Wäre halt nur schön, wenn uns die Sehnsucht „nach dem alten Leben“nicht ständig davon abhalten würde, auch mal etwas Entscheide­ndes auf den Weg zu bringen …

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 ??  ?? Thomas Berthold bei der Veranstalt­ung in Stuttgart
Thomas Berthold bei der Veranstalt­ung in Stuttgart

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