Der Schiffsjunge und der Bus
Eine tiefe Stimme am Telefon fragte, ob ich „der Kerl mit den Büchern über Seeleute“sei. Ich bejahte. „Okay, Jong, hör’ ma: Mich hat damals ein Flugzeugträger gerammt. Reicht das, um in so ein Buch reinzukommen?“
Es reichte, und es macht mir immer wieder Freude, wenn mich alte Seeleute oder ihre Angehörigen kontaktieren.
Sie vertrauen mir ihre Erinnerungen an: ganze Seekisten, Seemannsbücher, eine Sammlung alter Fotografien aus dem Kieler Hafen von 1902 war schon dabei. Welch ein Privileg, diese Geschichten aufschreiben zu dürfen! Vor kurzem habe ich wieder eine Lebensgeschichte zugesandt bekommen. Es handelt sich um die Erinnerungen eines inzwischen verstorbenen Seemannes namens Sievert Wolters. Die Fotos im selbstgedruckten Buch zeigen einen feschen „Moses“, der in den Fünfziger Jahren die Welt entdeckt.
Wie jeder Seemann in früheren Jahrzehnten erlebte Wolters Dinge, die nach viel mehr Abenteuer und Romantik klingen, als die Moderne mit Stahlkisten und GPS-Navigation bieten kann. Eine Episode sticht heraus, sie spielt im Juni 1955: Wolters, damals 15 und der Schiffsjunge an Bord, legt mit einem Frachter in Savannah an, US-Bundesstaat Georgia. Kunstdünger wird geladen. Es dauert, es ist heiß in den Südstaaten, und der Schiffsjunge holt für die schwarzen Hafenarbeiter in den Luken Eiswasser aus einer Maschine an Land. Eines Abends will der Junge mit dem Bus der Docker in die Stadt fahren. Doch der Bus fährt nicht los. Stattdessen beginnt zunächst ein Geraune, dann gibt es laute Rufe und Wut. Der Schiffsjunge versteht kein Wort Englisch. Ein großer Farbiger, den er aus den Luken kennt, kommt auf ihn zu. Er nimmt ihn an die Hand und führt ihn in den vorderen Teil des Busses, der durch ein Gitter vom Rest des Innenraums abgetrennt ist. Dieser Teil ist für Weiße reserviert. Nun rollt der Bus los. „Ich habe damals nicht begriffen, worum es ging“, schreibt Wolters. Er war zu jung. Im gleichen Jahr weigert sich die Schneiderin Rosa Parks, ihren Platz in einem Linienbus in Montgomery, Alabama, für einen weißen Fahrgast zu räumen. Sie wird festgenommen. Dieser Fall gilt neben dem Lynchmord am 14-jährigen Emmett Till in Mississippi als Beginn der Bürgerrechtsbewegung. Neun Jahre später ist der friedliche Protest mit Baptistenprediger Martin Luther King am Ziel: Der „Civil Rights Act“hebt auch die bis dahin bestehende Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen auf. In Hotels, Restaurants, Krankenhäusern, Sanitäranlagen – und in Bussen.
Nun haben wir das Jahr 2020. In den USA regiert ein Präsident, der mit einer rechtsradikalen Miliz sympathisiert und absurden Verschwörungsmüll von QAnon verbreitet. Es liegt wieder etwas 1955 in der Luft. Manche Probleme, die längst überwunden zu sein schienen, kehren auf unheilvolle Weise zurück.
Nicht nur in den USA.