Ein Vorzeigeland? Das war einmal
Neuer Rekordwert von 11 287 Neuinfektionen in Deutschland. Spahn im Home-Office
Es muss nicht so sein, dass wir in einigen Wochen dort stehen, wo andere Länder heute schon sind. RKI-Präsident Lothar Wieler
BERLIN - An dem Tag, an dem mit 11287 Neuinfektionen ein neuer Rekordwert in Deutschland erreicht wurde, gibt es auch beruhigende Nachrichten: Die CoronaWarn-App funktioniert zuverlässig. Mehrere enge Mitarbeiter von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), darunter sein Pressesprecher, wurden so umgehend vor dem Ansteckungsrisiko gewarnt, nachdem der Minister positiv getestet worden war. Und: Spahn geht es nach Angaben seines Ministeriums gut. Bisher sei es bei Erkältungssymptomen geblieben, er arbeitet von zu Hause aus.
Am frühen Morgen waren die besorgniserregenden Zahlen vom Robert-KochInstitut veröffentlicht worden: Mit 11 287 Neuinfektionen ist der Wert erstmals in Deutschland fünfstellig. Die Zahl der Menschen, die mit oder an dem Coronavirus gestorben sind, ist binnen eines Tages um 30 auf nunmehr 9905 gestiegen.
Wenig später ist bei einer Pressekonferenz RKI-Präsident Lothar Wieler zu erleben, der durchblicken lässt, dass das Infektionsgeschehen außer Kontrolle zu geraten droht. Er spricht von einem „drastischen, sehr dynamischen Geschehen“und berichtet von einer teilweisen Überforderung der Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Kontakten. Die Lage sei „sehr ernst“.
Seit Beginn der Pandemie war Deutschland zu keinem Zeitpunkt so stark von dem Virus betroffen wie andere Länder. Ist diese Zeit nun vorbei? Nach Einschätzung einiger Experten muss man nur nach Tschechien oder Frankreich schauen, um zu sehen, was hierzulande in kurzer Zeit auch passieren wird: ein explosionsartiger Anstieg der Infektionszahlen auf mehrere Zehntausend Fälle pro Tag. Damit wäre die einst überwiegend belächelte Berechnung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), wonach zu Weihnachten täglich 19 000 Neuinfektionen auftreten könnten, optimistisch zu nennen.
RKI-Chef Wieler widerspricht den düsteren Prognosen nicht. Er warnt zugleich vor der weit verbreiteten These, die Lage sei nicht weiter schlimm, weil die hohen Infektionszahlen nur mit dem Anstieg der Testungen zusammenhingen. Er verweist jedoch darauf, dass die Rate der Infizierten von weniger als einem Prozent im Sommer auf nunmehr über 3 Prozent gestiegen sei. Zudem würden sich wieder mehr ältere Menschen anstecken und es gebe damit auch mehr schwere Fälle. So hat sich nach seinen Angaben die Zahl der Covid-19-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, innerhalb von zwei Wochen auf mittlerweile 943 verdoppelt.
„Es muss nicht so sein, dass wir in einigen Wochen dort stehen, wo andere Länder heute schon sind“, schränkte Wieler ein. „Derzeit haben wir noch die Chance, die weitere Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.“Voraussetzung dafür sei aber die konsequente Einhaltung der Hygieneregeln.
Hauptinfektionsorte sind nach seinen Angaben Treffen in privatem Rahmen, „wo Menschen viel miteinander interagieren“. In Hotels, Geschäften oder öffentlichen Nahverkehrsmitteln sei dagegen das Risiko geringer. Deshalb plädiert er für strengere Obergrenzen bei Zusammenkünften – und zwar „mit einer verbindlichen Einheitlichkeit“, den Flickenteppich an Regelungen kritisierend. „Da ist noch Luft nach oben“, so Wieler diplomatisch.