Hamburger Morgenpost

Europas nächste Flüchtling­skrise

MIGRATION Immer mehr Menschen fliehen über Atlantik – auf einer der tödlichste­n Routen der Welt

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LAS PALMAS/DAKAR – Das brennende Camp Moria, gekenterte Schlauchbo­ote im Mittelmeer und verzweifel­te Flüchtling­e an der Landesgren­ze zwischen Griechenla­nd und der Türkei: Wenn wir an das Thema Migration denken, kommen uns als Erstes diese Bilder in den Sinn. Aber: Rund 4000 Kilometer entfernt braut sich gerade eine neue Krise zusammen.

Die Route gilt als eine der gefährlich­sten überhaupt: Mit schäbigen Booten versuchen jede Woche Hunderte Flüchtling­e, vom afrikanisc­hen Festland aus die Kanarische­n Inseln zu erreichen. Im besten Fall müssen sie von Marokko aus „nur“rund 100 Kilometer über den Atlantik fahren. Aber auch in Senegal, Gambia, Mauretanie­n, Guinea-Bissau oder sogar im rund 2400 Kilometer entfernten Guinea starten die Boote.

Die meisten der offenen Holzboote werden nur von einem Außenborde­r angetriebe­n und können der stürmische­n See des Atlantiks kaum etwas entgegense­tzen.

Nach Informatio­nen der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) kamen deshalb in diesem Jahr bereits mindestens 414 Menschen ums Leben – doppelt so viele wie im Vorjahr. Das wahre Ausmaß der Tragödien auf See dürfte aber noch schlimmer sein als bekannt. „Durch die sehr niedrige Erfolgsquo­te erreichen nur wenige Menschen die Kanarische­n Inseln“, schreibt IOM.

„Du kannst jederzeit sterben“, sagt etwa Papa Diop Sarr, ein Fischer in Senegal, der nach einem gescheiter­ten Versuch erneut die Reise antreten möchte. Die ganze Familie zurücklass­en zu müssen, sei ein Ansporn, für ein besseres Leben in Europa zu kämpfen. „Aber wir gehen, ohne zu wissen, was für Chancen oder Schwierigk­eiten wir vorfinden werden.“

Wie viele Menschen die Reise in Westafrika antreten –undwieviel­eesnichtle­bend schaffen – ist nicht bekannt. Spanische Medien berichtete­n etwa von einem 17-Jährigen aus Marokko. Er habe erzählt, dass von den 26 Menschen an Bord seines

Bootes 16 während der Irrfahrt über den Atlantik verdurstet seien. Er und die anderen hätten sie über Bord werfen müssen, unter ihnen sechs seiner Cousins.

„Die eine Sorge ist das Risiko des Sterbens“, sagt Nassima Clerin, eine Expertin für den Schutz von Migranten bei der IOM in Senegal. „Doch es gibt auch Sorgen und Ängste, was mit den Menschen passiert, die es tatsächlic­h schaffen und ankommen.“Auf den Kanaren ist die Lage in der Hafenstadt

Arguineguí­n im Südwesten von Gran Canaria am schwierigs­ten. Auf der Hafenmole drängten sich am vergangene­n Wochenende mehr als 2000 Neuankömml­inge, lagerten unter freiem Himmel und schliefen auf Beton, die hygienisch­en Verhältnis­se waren schlimm.

Eigentlich sollen die Migranten dort binnen 72 Stunden registrier­t und auf Corona getestet werden. Aber die Behörden sind überforder­t und der Unmut in der Bevölkerun­g wächst. Schon gibt es Demos gegen eine angebliche „Invasion“, bei der beklagt wird, der Staat tue zu viel für die Migranten und zu wenig für die von der Corona-Pandemie betroffene­n Einheimisc­hen.

Seit Jahresbegi­nn erreichten knapp 14 000 Menschen die Kanaren. Das waren nach Angaben des spanischen Innenminis­teriums fast siebenmal so viele wie im Vorjahresz­eitraum – allein von Samstag bis Montagmorg­en kamen mehr als 2200. Zum Vergleich: Auf die italienisc­he Insel Lampedusa kamen seit Januar 16000 Bootsflüch­tlinge.

Aber was treibt immer mehr Menschen dazu, ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Experten glauben, dass es unter anderem mit der Verschiebu­ng der Migrations­routen zu tun hat – auch wegen coronabedi­ngter Grenzschli­eßungen. Alle Sahel-Staaten hätten während der Pandemie dichtgemac­ht, sagt Matt Herbert von der Denkfabrik Institute for Security Studies. Besonders lang und effektiv seien Algeriens Schließung­en gewesen – so sei die

Route von Niger oder Mali dorthin kaum nutzbar gewesen. In Marokko seien die Behörden zudem in Kooperatio­n mit der EU stärker gegen Migranten vorgegange­n, erklärt Bram Frouws vom Mixed Migration Centre.

Die Pandemie hat zwar vielen Migranten die Reise erschwert, doch sie hat auch die Not der Menschen verstärkt – und den Wunsch auszuwande­rn. Denn die Corona-Krise hat vielen die Lebensgrun­dlage genommen. Die African Developmen­t Bank prognostiz­ierte im Juli, dass 25 Millionen Afrikaner in diesem Jahr ihre Jobs verlieren könnten. In Senegal etwa, das stark vom Tourismus abhängig ist, wird das Wirtschaft­swachstum der Weltbank zufolge von 5,3 Prozent 2019 auf 1,3 Prozent in diesem Jahr sinken.

Die meisten Migranten, die auf den Kanaren ankommen, hoffen laut IOM-Expertin Clerin, nach FestlandSp­anien oder sogar weiter in andere Länder Europas zu reisen. Doch wegen der Corona-Lage sei es derzeit schwierig –viele Migranten blieben auf den Kanaren. Clerin: „Sie sind quasi dort gestrandet.“

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Mit Holzbooten wie diesem vor der Küste der Kanaren gekenterte­n Exemplar wagen Hunderte die gefährlich­e Überfahrt von Afrika aus.
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Gran Canaria: Bootsflüch­tlinge aus Marokko werden von der Polizei nach ihrer Ankunft vom Strand wegeskorti­ert.
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