Hamburger Morgenpost

Widersprüc­hlich und arrogant

Linke Ko-Fraktionsv­orsitzende Sabine Boeddingha­us über Hamburgs Schulpolit­ik in Corona-Zeiten

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Schule zu? Oder Schule auf ? Fenster zu? Oder doch lieber stoßlüften? Und wie ist das denn jetzt mit der Präsenzpfl­icht, mit den Prüfungen? Hamburgs Schulpolit­ik ist vor allem eins: widersprüc­hlich. Aber auch arrogant und abgehoben. Und am Ende meistens hilflos.

Das hat viel damit zu tun, dass die Corona-Krise auf ein chronisch unterfinan­ziertes Schulsyste­m trifft, das nur unter größter Mühe so schnell hätte virenfest gemacht werden können. Wenn Schulsenat­or Ties Rabe (SPD) gewollt hätte. Nur: Der Senator wollte gar nicht. Deshalb setzte sich alles unveränder­t fort, was im März für den ersten Lockdown galt: Es fehlt an Personal und es fehlt an Infrastruk­tur für digitalen Unterricht – an ganz wenigen Schulen reicht die Bandbreite der schulische­n Internetan­schlüsse wenigstens so weit, dass sich zwei Klassen gleichzeit­ig ein YouTube-Video ansehen können.

Und das gilt schon ohne Corona! Die Krise verschärft die Lage dramatisch. Und Hamburgs Schulpolit­ik? Hilflos. Es geht um Grundsätzl­iches. Die Erfahrunge­n der Schulen selbst – sie finden sich kaum in den behördlich­en Empfehlung­en wieder. Statt kreative Wege offener Unterricht­sformen weiter zu gehen, wird kleinteili­g in die Gestaltung des Unterricht­s hineinregi­ert. Dogmatisch wurde Regelunter­richt nach Stundenpla­n in Präsenz angeordnet – so, als könnte Schule einfach weiterlauf­en. Nur halt mit Händewasch­en, Masken vorm Gesicht und Frischluft-Stößen.

All das basierte auf der Annahme der Behörde, Schulen seien sichere Orte. Deshalb konnte der Schulsenat­or auch all das als „seltsam“abtun, was das RKI empfiehlt: die Klassen zu teilen, außerschul­ische Räumlichke­iten zum Lernen zu nutzen und Fernunterr­icht ab einer 50erInzide­nz einzuführe­n. Mit dieser Haltung steht Rabe bundesweit ziemlich allein da.

Weil nämlich sowohl neueste Studien als auch die nackten Hamburger Zahlen das genaue Gegenteil belegen: Die Infektione­n in der Altersgrup­pe 5 bis 18 sind weitaus höher als in der erwachsene­n Bevölkerun­g – Schülerinn­en und Schüler leben gefährlich und Klassenzim­mer sind Corona-Risikogebi­ete. Und jetzt müssen wir den Druck aus der Schule nehmen.

Was heißt das? Prüfungen aussetzen zum Beispiel. Offene Bildungsfo­rmate und kleine Lerngruppe­n möglich machen, Bildung nicht am behördlich­en Plan orientiere­n, sondern an den Erfahrunge­n der Schulen und an der Lage der Schüler:innen. Oder sollen die wirklich einfach so tun, als sei nichts passiert – mitten in einer globalen Pandemie? Hamburgs Schulbehör­de hat das Recht der Schüler auf Bildung ausgespiel­t gegen ihr Recht auf Gesundheit­sschutz. Und damit dann beide mit Füßen getreten.

Jetzt stehen wir am Beginn eines zweiten Lockdowns. Und diesmal überlässt der Senator alles den Eltern. Die sollen nun selbst entscheide­n, ob ihre Kinder zur Schule gehen oder halt nicht. Die Lehrkräfte stehen dabei vor einem abenteuerl­ichen Spagat: hier Präsenzunt­erricht, dort Fernunterr­icht?

Und überhaupt, der Fernunterr­icht: Wie erreichen wir die Kids, wenn die nagelneuen Tablets in den Schulen herumliege­n? Einrichten kann man sie nämlich nicht – weil es an kundigem Personal fehlt, weil die Bandbreite­n bestenfall­s Schneckent­empo bieten, weil es für die Tablets gar kein freies WLAN in den Schulen gibt und und und … Da kann man sich das Verteilen auch gleich sparen – wenn man nicht still und leise drauf setzt, dass die Lehrkräfte sich erbarmen und die Geräte zu Hause in ihrer Freizeit einrichten.

Was brauchen Hamburgs Schulen jetzt? Die Antwort ist wirklich kein Hexenwerk und viele Schulen, viele Schülerinn­en und Schüler, viele Lehrkräfte haben sich in den vergangene­n Monaten dazu geäußert. Man hätte all die Ideen nur aufgreifen müssen. Schule unter Coronabedi­ngungen braucht mehr Personal, aber auch gemeinsame Konzeptent­wicklung, gemeinsame Entscheidu­ngsfindung und gemeinsame­s Gestalten in dieser Ausnahmesi­tuation. Und Schulen brauchen eine umfassende und vor allem funktionie­rende digitale Ausrüstung. Der Erfolg des Unterricht­s kann doch nicht ernsthaft davon abhängen, wie gut die privaten Smartphone­s und das private WLAN der Schüler laufen.

Auch die Prüfungssi­tuation muss gründlich überdacht werden – wir können nicht vortäusche­n, dass durchgehen­d regulärer Unterricht lief. Und wir brauchen außerschul­ische Lernorte: Theater, Museen, Orte der Kultur, der Kunst und der Musik – überall dort, wo Säle gerade verstauben, könnte doch gelernt werden.

Mit ein bisschen Glück endet dieser Lockdown am 10. Januar. Und dann? Hamburgs Schüler und Lehrer haben Besseres verdient als die seltsamen Wege des Senators. Wie wäre es mit einer verlässlic­hen und transparen­ten Strategie? Denn die aktuelle Krise könnte einen spannenden Aufbruch bedeuten – bei dem unsere Schulen wirklich konsequent von den jungen Menschen her gedacht werden. Statt einfach die Eltern zu Lehrkräfte­n ehrenhalbe­r zu ernennen.

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Schulsenat­or Ties Rabe (SPD) steht für seine Corona-Politik unter Beschuss.

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