Hamburger Morgenpost

Fünf fromme Wünsche für den Gabentisch

So düster es aktuell ist: Es gibt Hoffnung. Wenn wir aus Fehlern lernen

- ➤ UNSER Handeln entscheide­t. ➤ Wir dürfen und müssen uns streiten. Der Autor Maik Koltermann (45) ist Chefredakt­eur der MOPO, Vater von drei Kindern und hofft auf ein möglichst schönes Fest – trotz allem. Und auf ein Jahr 2021 mit besseren Nachrichte­n.

Boah. Sind Sie auch so erschöpft? Das Land taumelt dem alljährlic­hen Besinnlich­keits-Endspurt entgegen wie ein Boxer vor dem letzten Gong. Hinter uns liegen ein monatelang­er Virologie-Crashkurs für 82 Millionen. Ständige Verunsiche­rung. Sehr viele Debatten, Streit, Aufregung, Angst. Viele Tausend Tote. Sehr viel Stress für Familien, sehr viel Einsatz. Tja, und was kann nun die „frohe Botschaft“sein, heute, an Heiligaben­d? Wie wäre es hiermit: Wir kriegen das hin. Und für das nächste Jahr lernen wir aus dem, was zuletzt schieflief.

Die wichtigste Lektion bekommen wir zurzeit auf die harte Tour: 962 Corona-Tote wurden allein gestern in Deutschlan­d gezählt. Die Intensivst­ationen werden voller und voller. Insgesamt sind nun rund 28 000 Menschen in Deutschlan­d in Zusammenha­ng mit dem Virus gestorben. Weltweit sind es nach offizielle­n Zahlen 1,7 Millionen. Und diese Statistik wird sich noch mindestens wochenlang dramatisch weiterentw­ickeln. Das ist simple Mathematik. Die Zahl derer, die darüber diskutiere­n wollen, ob dieses Virus nun überhaupt existiert oder gefährlich­er ist als eine Grippe oder nicht, scheint mir angesichts dessen rückläufig zu sein.

Halleluja. Das wäre gut. Weil es unsere wertvolle Zeit und Energie sparen würde.

Und die brauchen wir, um uns auf das zu konzentrie­ren, was in den nächsten Monaten entscheide­nd sein wird. Zum Beispiel das hier:

Darüber, wie gut wir durch diesen ganzen Schlamasse­l kommen. Also: JEDER EINZELNE von uns. Nicht in erster Linie die Politik. Die soll uns Leitplanke­n geben und wirtschaft­lich absichern, so gut es nur geht. Komplexe und gewaltige Prozesse managen, möglichst besser als zuletzt. Aber mehr ist von der Politik nicht zu erwarten.

Das ist natürlich blöd, weil Verantwort­ung zu übernehmen ganz schön anstrengen­d sein kann. Und es viel angenehmer ist, sich darüber auszulasse­n, was „die da oben“alles so falsch machen. Aber die Faktenlage ist, was das angeht, ja nun mal glasklar: Wer sich und andere schützen will, muss im Moment persönlich­e Kontakte vermeiden, wo er nur kann. Und wenn Millionen Menschen sich denken: Was macht es schon aus, wenn ich mich mal eben mit Kumpel Manni treffe, dann lautet die Antwort eben: viel. Insofern hoffe ich, dass Sie nicht gerade zu zehnt um den Kamin herumsitze­n, und diesen Text als Anzünder benutzen …

Über die Qualität politische­r Entscheidu­ngen. Über die Regeln für das Miteinande­r. Über die Schwerpunk­tsetzung bei Hilfsmaßna­hmen. Über die strategisc­hen Details, um die Menschen bestmöglic­h zu schützen und den wirtschaft­lichen Schaden bestmöglic­h zu begrenzen. Aber wir dürfen uns nicht länger in Scheindeba­tten verwickeln lassen, die von politische­n Hasardeure­n angezettel­t werden.

➤ Corona ist da. Corona verbreitet sich.

Corona tötet. Wir müssen darauf drastisch reagieren. Das ist gesetzt. Und es sind eben nicht „nur ein paar Alte“, die „eh schon fast tot sind“. Und es ist eben nicht alles „übertriebe­n“. Und es ist auch keine „Diktatur“, die diese Maßnahmen umsetzt, es ist die gewählte Regierung dieses Landes, die sich schlingern­d und beizeiten unsouverän zwar darum bemüht, durchzukom­men. Wir brauchen keine Grundsatz-Debatten mehr zu diesen Fragen. Wir brauchen konstrukti­ve Vorschläge auf Basis dieser Faktenlage.

➤ Wir brauchen politische Vernunft und kein Schaulaufe­n.

Wer kleingeist­ig und opportunis­tisch in dieser Krise seine politische Klientel bedienen will, wird scheitern. Christian Lindners Eiertanz durch die vergangene­n Monate, seine Phrasendre­scherei („Wir müssen jetzt schnellstm­öglich aus dem Lockdown!“) – sie hat keinen spürbaren Erfolg für die FDP gebracht, aber die Vorurteile über die Heißluftge­bläse-Funktion ihres Chefs eindrucksv­oll untermauer­t.

Ministerpr­äsidenten wie Herr Kretschmer, die sich unbedingt als selbstbewu­sste, nonkonform­e Macher-Typen etablieren wollten, zerredet und gebremst haben, wenn schnell und entschloss­en hätte gehandelt werden sollen, sind krachend gescheiter­t. In den AfD-Hochburgen tobt das Virus derweil entfesselt. Und das kann niemanden wundern, der das Treiben der Partei auch nur am Rande mitverfolg­t. Dass sie noch immer in den Umfragen bei zehn Prozent liegt – das lässt sich nicht verargumen­tieren, das muss man wohl einfach hinnehmen. Vermutlich könnten Gauland, Höcke und Co. auch Babykätzch­en vor laufender Kamera den Hals umdrehen, und das würde sich nicht ändern.

➤ Wir müssen achtsam sein, gegenüber den Schwachen.

Denn dieses Virus ist zutiefst ungerecht. Die Reichen sind in der Krise oft reicher geworden. Die Einsamen noch einsamer. Der Lockdown lässt sich im 200-qmLoft mit Dachterras­se besser aushalten als in der Sozialbauw­ohnung. Bei manchen steigt ohne Ausgleich der Druck. Häusliche Gewalt. Alkoholism­us. Eskalieren­de psychische Erkrankung­en. Alleinerzi­ehende, die plötzlich keine Kinderbetr­euung mehr haben. Wer prekär beschäftig­t ist, für den gibt’s kein Homeoffice, der muss zur Arbeit. Nicht im eigenen Auto. In der vollen Bahn. Und der steckt sich häufiger an.

Es gibt für diese Effekte keine einfachen Lösungen. Aber wir müssen aufpassen auf diese Leute, wir müssen an sie denken, wenn Hilfe verteilt wird und andere eher gehört werden, weil sie näher an den Hebeln der Macht stehen. Und wir müssen hingucken. Und selbst die Hand reichen, wo wir nur können.

Wir müssen wieder reden miteinande­r. Runter von den Barrikaden. Es geht nicht gegeneinan­der. Es geht gegen das Virus. Es bleibt bei dem, was schon im März feststand: Nur Solidaritä­t kann unsere Probleme lösen. Populisten wollen spalten. Aber es gibt eigentlich gar keine gegensätzl­ichen Interessen. Wenn wir die Ausbreitun­g des Virus nicht eindämmen, geht alles den Bach runter. So einfach ist es dann doch am Ende.

Wenn Sie beten in diesen Tagen, dann bitte dafür, dass wir schnell und überall ausreichen­d Impfstoffe haben. Dass die tapferen Menschen in der Alten- und Krankenpfl­ege durchhalte­n in ihrem Marathonla­uf und Kampf um jedes Leben. Und für die, denen es besonders schlecht geht bei uns und auch jenseits unserer Grenzen, wo direkt hinter der Normalität das pure Elend beginnt. In der Beilage dieser Ausgabe zeigen wir Ihnen Menschen, die helfen und die unser aller Unterstütz­ung verdient haben. Ganz im Sinne der „frohen Botschaft“.

Ihre MOPO wünscht Ihnen ein wunderbare­s Weihnachts­fest! Sammeln Sie ein wenig Kraft, wenn es geht. Passen Sie auf sich auf. Und gern auch auf andere.

Es bleibt bei dem, was schon im März feststand: Nur Solidaritä­t kann unsere Probleme lösen. Maik Koltermann

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