Schmidt zu Giscard: „Mein Vater ist Jude“
zielt falsche Anschuldigungen gegen ihn, stellen ihn wegen Betrugs und Zinswuchers vor Gericht und sperren ihn anschließend ins KZ Lichtenburg, das er erst gegen eine Zahlung von 300 000 Reichsmark wieder verlassen darf. Max und seine Frau fliehen nach England – müssen aber ihren wenige Monate alten Sohn Michael bei der mütterlichen Oma zurücklassen.
Natürlich wollen die Eltern ihr Kind so schnell wie möglich zu sich holen. Da bietet Ludwig Gumpels Witwe Hedwig ihre Hilfe an. Sie borgt sich von der (arischen) Mutter ihrer Schwiegertochter den Pass und reist unter falschem Namen mit dem Kind nach England. Als sie dort ankommt, bekniet Max seine Mutter zu bleiben. Aber Hedwig Gumpel hat ihr Wort gegeben, den Pass zurückzubringen und will es nicht brechen. Sie kehrt zurück in den sicheren Tod.
Zunächst versteckt sie sich mehrere Jahre mit Hilfe ihrer Schwiegermutter und einiger Freunde in Berlin, später, als es dort zu brenzlig wird, in einem Gärtnerschuppen in Baalberge, heute ein Ortsteil von Bernburg. Es gibt Leute, die es gut mit ihr meinen, sie mit Lebensmitteln versorgen. 1942 erfährt Hedwig Gumpel, dass soeben die letzten Juden aus der Stadt deportiert worden sind. Völlig verzweifelt geht sie die sechs Kilometer vom Versteck bis zum jüdischen Friedhof zu Fuß, schluckt eine Überdosis Veronal, ein Schlafmittel, und legt sich zum Sterben auf das Grab ihres Ehemannes Ludwig Gumpel.
Zurück zu den Schmidts nach Hamburg: Helmut überlebt den Krieg, gerät in Gefangenschaft und engagiert sich nach seiner Rückkehr politisch. Der Rest ist Geschichte.
Über seinen jüdischen Großvater, von dem er nicht mehr als den Familiennamen weiß, redet er mit Rücksicht auf die Gefühle seines Vaters nicht. Nur seinem Freund Valery Giscard d’Estaing, dem französischen Staatspräsidenten, vertraut er sich an. Beide sitzen 1980 in einer gepanzerten, abhörsicheren Regierungslimousine, auch vom Fahrer sind sie durch eine Panzerglasscheibe getrennt, da erzählt Schmidt Giscard sein Geheimnis. Giscard schreibt in seinen Memoiren, Schmidt habe ihm gesagt: „Mon père est juif“– „Mein Vater ist Jude.“
Einige Jahre danach erzählt Schmidt dem britischen Journalisten Jonathan Carr von den jüdischen Vorfahren – aber ohne den Namen Gumpel zu nennen. Den gibt er erst preis, nachdem 1991 der Vater gestorben ist und er, der Sohn, das Familiengeheimnis nicht länger hüten muss.
In dem 1992 veröffentlichten Buch „Kindheit und Jugend
unter Hitler“schreibt Schmidt sodann: „Trotz erheblicher Bemühungen ist es mir auch Jahrzehnte später nicht gelungen, über Gumpel und seinen Lebensweg Näheres zu erfahren. Auch von der Mutter meines Vaters weiß ich außer ihrem Namen und Geburtsdatum nichts.“
Gumpel. Als der Name raus ist, gehen die Hamburger Historiker Gerrit Aust und Irmgard Stein sofort auf Spurensuche. Und noch im selben Jahr erscheint ihr Buch „Gumpel, Wenzel, Schmidt – die unbekannten Vorfahren von Helmut Schmidt“.
Durch Zufall fällt der Band auch einem Mitglied der Familie Gumpel in die Hände, das sich gerade in Deutschland aufhält. Er informiert den gesamten Familienclan, der über die halbe Welt verstreut ist. Die Gumpels in den USA, die Gumpels in Brasilien, die Gumpels in England, die Gumpels in Deutschland und natürlich die Gumpels in Israel erfahren die unglaubliche Neuigkeit: „Wir haben ein neues Familienmitglied! Den ehemaligen Bundeskanzler aus Deutschland.“
Einer aus der erstaunten Familie freut sich: „Gott sei Dank, dass er ein anständiger Mensch ist. Es hätte auch ein furchtbarer Nazi sein können!“
Eine Zeit lang denken die Gumpels über ein großes Familientreffen mit den Schmidts nach. Daraus wird nichts. Immerhin kommt es 1999 zu einem dreitägigen Besuch von Immanu-El
Adiv in Langenhorn. Sie erzählt, dass Helmut Schmidt gerade von einer Auslandsreise zurückgekommen sei und kurz darauf erneut verreisen musste. „Er war todmüde, aber hat sich die Zeit für mich genommen.“
Helmut Schmidt und seine jüdischen Vorfahren. Das Ergebnis eines Techtelmechtels zwischen einem jüdischen Bankier und einem Hausmädchen aus Hamburg. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätten die beiden geheiratet. Das Leben des Kindes hätte einen völlig anderen Verlauf genommen. Dafür hätten die Nazis gesorgt.
Ein Detail muss noch nachgereicht werden: Friederike Wenzel, die leibliche Mutter von Gustav Ludwig Schmidt. Was wurde aus ihr?
Helmut Schmidt glaubt lange, ihr nie begegnet zu sein. Irgendwann später erinnert er sich aber, dass – da war er noch Kind – immer mal wieder eine ältere Dame bei den Eltern zu Gast war, von der er nicht wusste, wer sie war. Das muss sie gewesen sein: die wahre Großmutter.
Friederike Wenzel hat im Alter von 46 Jahren endlich ihr Glück gefunden und den verwitweten 56-jährigen Werkmeister Johann Karl Heinrich Feind aus Rahlstedt geheiratet. Als sie stirbt, wird ihr Sohn Gustav Ludwig Schmidt benachrichtigt. Er nimmt 1949 an der Trauerfeier teil – aber niemand in der Kapelle ahnt, in welcher Beziehung er zu der Frau im Sarg steht.
Dann lässt der Pastor in der Trauerrede die Bemerkung fallen, dass es der Verstorbenen leider nicht vergönnt gewesen sei, Kinder zu haben. Was muss in diesem Moment in dem Sohn vorgegangen sein?