Mein Weg aus der Obdachlosigkeit
„Kiez-Mensch“Michael erzählt:
Eine richtige Freundschaft gibt es unter Obdachlosen nicht. Dazu ist der Neid zu groß.
Michael schließt die Augen. Er lächelt. Lehnt sich zurück. Der Mann sitzt auf einer Bank an den Landungsbrücken. Nicht auf irgendeiner. Die sechs Holzsprossen unter einem Torbogen waren monatelang sein Zuhause. Bis vor wenigen Wochen war Michael Drochner (52) noch namenlos. Auf dem Kiez nur bekannt als der „Mann von Brücke 6“. Dabei hatte er ein Leben, eine Familie, eine eigene Firma. Doch es ging bergab. Am Ende blieb nur die Straße. Heute hat er den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft. Dennoch kommt er häufig zurück – zu seiner Bank.
Eine Passantin hetzt an Michael vorbei. Ihre Haare fliegen im Wind. Ganz schön kalt. Michael nickt. Direkt an der Elbe könne es schon frostig werden. „Aber der Platz ist überdacht und ich wurde hier als Obdachloser geduldet.“Hinzu kommt, dass er einen Schlafplatz wollte, an dem immer mal wieder jemand vorbeikommt. Seine große Angst: Er steigt abends in den Schlafsack und wacht morgens nicht mehr auf, weil ihm jemand etwas angetan hat. Auch heute kommt er noch gerne zu seiner Bank. Warum? Das kann er kaum beschreiben. Es sei ein bisschen wie nach Hause kommen. Auch wenn die Zeit hart war und er nie wieder hier landen will.
Der Weg in die Obdachlosigkeit – bei Michael war es ein langer. Vor Brücke 6 führte der Mann aus der Nähe von Stuttgart ein gutes Leben. Verheiratet, einen Sohn, großes Haus, zwei Autos, eigene Firma. Michael war glücklich. „Heute fühlt sich das alles so weit weg an“, sagt er. Und erzählt seine Geschichte, die für ihn 1994 beginnt.
„Da habe ich meine Frau kennengelernt. Sie war durch eine Millionenerbschaft sehr wohlhabend.“Im selben Jahr kaufte die Frau ein Haus, der gemeinsame Sohn kam zur Welt, sie heirateten. Kurz darauf übernahm der gelernte Kfz-Mechaniker und Automobilkaufmann ein eigenes Autohaus. Er war angekommen. Der Mann genoss sein Leben. Zumal er als Sohn eines Werkzeugschleifers mit acht Kindern auch ganz andere Zeiten erlebt hatte.
Nach zwei Jahren stieg ein Freund als Geschäftspartner mit in seine Firma ein. Ein großer Fehler. „Irgendwann kamen Rechnungen über Autos, die noch nie auf meinem Gelände standen. Es stellte sich heraus, dass mein Partner die Autos unterschlagen hatte.“Das sei ein riesiger Schock gewesen. Michael berichtet, dass der Mann danach abgetaucht und bis heute nicht gefasst sei.
Für Michael ging es bergab. Er haftete mit, verlor das Autohaus. Was blieb, war ein riesiger Haufen Schulden. Perspektivlosigkeit. Verzweiflung. 2009 erlitt Michael einen Schlaganfall. „Erst Koma, danach Reha, dann die Scheidung“, fasst der Mann mit fester Stimme knapp zusammen. Dass seine Ehe scheiterte, habe an der Belastung durch den Schlaganfall gelegen. „Als ich im Koma lag, hat meine Frau mich jeden Tag besucht. Das hat an ihren Nerven genagt. Nach der Reha war es nie wieder so wie vorher.“
Das Geld wurde knapp, seine Frau musste sich einen Job suchen. Jeden Tag Sorgen. Jeden Tag Streit. Ein gemeinsamer Weg schien unmöglich. Heute weiß Michael: Seine Frau hat sich sehr um ihn gekümmert. Er denkt häufig darüber nach, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Familie weg, Job weg, Haus weg. Michael war am Ende.
2019 kam er nach Hamburg. Er hatte für zwei Wochen ein Hotelzimmer gebucht, wollte sich eine Auszeit gönnen. Sein Leben neu ordnen, Kraft schöpfen. Am zweiten Tag wurde ihm sein Portemonnaie gestohlen. „Ich hatte im Park beim Michel mittags ein Nickerchen gemacht und als ich wieder aufwachte, war meine Jacke weg, samt allen Papieren und Handy.“Statt sich Hilfe zu holen und um neue Papiere zu kümmern, gab Michael auf. Er hatte keine Erwartungen mehr an das Leben, an sich selbst. Er wollte unsichtbar sein. Und wurde es.
Aus Michael Drochner wurde der „Mann von Brücke 6“. Anfangs schlief er noch in einem Wartehäuschen der Fähre. „Da hat mich die Wasserschutzpolizei vertrieben. Die Beamten sagten, das würde kein gutes Bild für die Fahrgäste abgeben.“Sie rieten ihm zum CaFée mit Herz zu gehen. Das tat Michael. Er bekam einen Schlafsack, Isomatte, Klamotten und das Angebot, ehrenamtlich für die Einrichtung zu arbeiten. Michael sagte zu. Ein bisschen Halt, wenn sonst schon alles aus den Fugen geraten ist.
Auf Platte geht es nicht mehr um Leben. Es zählt nur Überleben. Seine Gedanken kreisten permanent ums Geld. Lieber was zu essen kaufen oder doch eine Schachtel Zigaretten? Michaels typischer Tag startete bereits um 6 Uhr. Er war in der Frühstücks-Crew des CaFée mit Herz. Nach vier Stunden ehrenamtlichem Dienst zog er los. Flaschen sammeln. Um 14 Uhr stellte er sich bei der Obdachlosenhilfe zum Mittagessen an. Danach wieder Flaschen sammeln. Mit dem Geld kam er irgendwie hin. Sein großes Problem waren die Wochenenden, wenn das CaFée mit Herz geschlossen hatte. Da musste er sich selber um sein Essen kümmern. „Mal eine Wurst auf die Hand, mal ein Brötchen. Das musste reichen“, sagt der Mann mit den grauen Haaren.
Schnorren kam für Michael nie infrage. „Das habe ich mich nicht getraut. Ich hatte Angst vor der Reaktion der Leute.“Er wollte keine angewiderten oder auch mitleidigen Blicke. Es schmerzte den Obdachlosen, wenn er im Park am Michel saß und Eltern die Köpfe ihrer Kinder wegdrehten, damit sie ihn nicht wahrnehmen. Aber es gab auch schöne Momente auf Platte. Wenn die Inhaber der Läden an den Landungsbrücken kamen, ihm Geld zusteckten oder einen Kaffee ausgaben. Einmal wachte Michael morgens auf und es lagen zweihundert Euro auf seinem Schlafsack. Eine große Erleichterung. Zwei Wochen ohne Flaschen sammeln.
Am schlimmsten waren die Nächte. Die Angst davor, das wenige, was er hatte, auch noch zu verlieren. Sein ganzer Besitz passte in einen Rollkoffer. Zwar nahm er ihn tagsüber überall mit hin und legte sich nachts mit dem Kopf drauf. Doch zwei Mal wurde ihm sein Koffer nachts gestohlen. „Einen Obdachlosen beklauen ist schon unterste Schublade“, sagt Michael sauer. Seitdem konnte er nachts nicht mehr richtig schlafen. „Ich war immer nur im Halbschlaf, damit ich merke, was um mich herum passiert.“
Kontakt zu anderen Obdachlosen hatte Michael kaum. „Ich hatte zwar ein paar Bekannte, aber das sind allesamt Alkoholiker. Wenn du dazugehören willst, musst du auch trinken.“Und das war für den 52-Jährigen ausgeschlossen. Zu groß die Angst, bei Kälte einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Auch auf den Stress hatte er keine Lust. Wenn die Zigaretten oder der Wodka in einer Gruppe ausgehen, sei der Ärger programmiert. „Eine richtige Freundschaft gibt es unter Obdachlosen nicht. Dazu ist der Neid zu groß. Und wenn es nur um eine Schachtel Zigaretten geht.“
Wut auf das System, auf die Familie, auf Ämter – das hat Michael nicht. Er gibt niemandem die Schuld an seiner Situation. „Der Weg in die Obdachlosigkeit war meine eigene Entscheidung. Mir fehlte die Kraft zum Weitermachen.“Und auch, dass er kein Hartz IV bekommen hat, liegt nicht an anderen. Er wollte es nicht. Es war ihm peinlich. Seit Ende
Es schmerzt, wenn Eltern die Köpfe ihrer Kinder wegdrehen, damit sie dich nicht wahrnehmen.
Michael Drochner
vergangenen Jahres geht es bergauf.
Das CaFée mit Herz vermittelte ihm ein Zimmer auf der Reeperbahn – in einem ehemaligen Hotel. Sieben Quadratmeter mit Gemeinschaftsbad auf dem Flur. „Kein Luxus, aber besser als Brücke 6.“Am Anfang war die Enge des Zimmers ungewohnt für den Obdachlosen. Auch an das weiche Bett musste er sich erst gewöhnen. Mittlerweile ist er dankbar, sein eigenes Reich zu haben. Seine Sachen im Zimmer lassen zu können mit der Gewissheit, dass sie abends noch immer da sind. „Endlich kann ich wieder richtig tief schlafen.“
Heute ist Michael froh, gekämpft zu haben. Sich noch einmal „so gehen lassen“würde er nie wieder. Er rät allen, sich Hilfe bei Sozialarbeitern zu holen. Das war seine Rettung. „Ich weiß nicht, ob ich sonst noch da wäre.“Mehrfach habe er darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. „Ich bin zwar schon 52, aber mein Leben ist nicht vorbei. Ich starte noch mal durch“, sagt er grinsend. Und das auch beruflich. Das CaFée mit Herz vermittelte ihm einen Praktikumsplatz beim Solartechnik-Unternehmen Enerparc.
Michael bekam eine feste Stelle angeboten und arbeitet derzeit in der Buchhaltung. In ein paar Monaten soll er nach Magdeburg wechseln und den Fuhrpark übernehmen. Und auch Kontakt zu seiner Schwester und seinem Sohn hat er wieder. Michael kämpft mit den Tränen, als er vom ersten Telefonat mit seinem Jungen berichtet. Er hofft, ihn bald wiederzusehen. Ob er wieder ein glücklicher Mensch ist? Michael überlegt. Er schüttelt langsam den Kopf. Dafür fehle ihm der Halt seiner Familie zu sehr. Aber der Mann ist zufrieden. Er hat wieder ein Leben. Wenn auch ein anderes. ➤ Das CaFée mit Herz hat Michael geholfen, sich ein neues Leben aufzubauen. Der Verein erhält keine staatlichen Gelder. Helfen Sie beim Helfen:
CaFée mit Herz Hamburger Sparkasse IBAN: DE65200505501206134304 BIC: HASPDEHHXXX