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erfuhr es nach einem Einkauf mit ihrer Mama. Im Supermarkt fiel ihrer Mutter eine Dame weinend um den Hals. „So schwierig sie als Person auch war, so sehr schätze ich auch das, was sie getan hat.“
Wenn Anna von ihrer Mutter spricht, fallen Worte wie Autorität, dominant, einnehmend. Es klingt hart. Lieblos. Ihre Mutter konnte sie nie umarmen. Die einzige Art, bei der sie es ertragen habe, sich mit ihrer Tochter zu beschäftigen, sei stundenlanges Vorlesen gewesen. „Meine Mutter hat mich sehr früh mit einem Partner, einer Freundin verwechselt. Das könnte man ihr zum Vorwurf machen.“Allerdings sieht Anna das heute mit anderen Augen. Sie hat ihren Frieden gemacht – nachdem diagnostiziert wurde, dass ihre Mutter manisch-bipolar ist. „Es kann Teil des Krankheitsbildes sein, dass sich diese Menschen nicht emphatisch öffnen können.“
Mit 20 Jahren aber ertrug sie die Enge der Apotheke, den Schatten ihrer Mutter nicht mehr. Sie wollte raus. Mit dem Schiff ging es nach London. An die renommierte Modeschule Central Saint Martins. Anna studierte freie Kunst und wurde eine gefragte Künstlerin. Sie suchte ihre Freiheit, lebte in Paris, New York, Berlin. Dann kam der Anruf, der alles veränderte. Eine weinende Mitarbeiterin sagte, ihre Mutter sei in der Apotheke zusammengebrochen. „Sie wollte ihr Geschäft nicht verlassen. Mit 83 war sie die wohl älteste Apothekerin der Welt.“Irgendwann spielte die Gesundheit nicht mehr mit. „Für meine Mutter war es eine Notschließung ohne Vorankündigung.“Für Anna hatte sich das Ende schon länger angekündigt. Doch dass ihre Mutter zum Pflegefall werden würde, hätte sie nie gedacht. Die Künstlerin war gerade in eine neue Wohnung in Berlin gezogen, hatte ein schönes Atelier gemietet. Zurück nach Hamburg ziehen? Absolut ausgeschlossen. „Ich dachte, ich räume mal flott das Geschäft, meine Mutter ist dann rüstige Rentnerin und ich gehe zurück.“
Doch ihre Mutter ist auf Hilfe angewiesen. Sie in ein Heim geben? Für Anna undenkbar. Sie gab ihr altes Leben auf. Und fand endlich, was sie so lange gesucht hatte. „Freiheit entsteht in unseren Köpfen. Ich habe genug von der Welt gesehen. St. Pauli ist meine Freiheit“, sagt die blonde Single-Frau lächelnd. Heute lebt sie gemeinsam mit ihrer Mutter, einer Hündin und zwei Katzen direkt über der Apotheke in einer Wohnung. Und auch das Erbe ihrer Mutter führt sie fort. Wenn auch anders. Aus der denkmalgeschützten Apotheke von 1799 hat sie ein Museum für historisches Sexspielzeug gemacht. „Es gibt noch immer Aufklärungsbedarf bei den Themen Sexualität und Körperlichkeit. Darüber wird längst nicht selbstverständlich gesprochen.“Neben historischen MassageGeräten, Vibratoren und Dildos wird auch außergewöhnliches Sexspielzeug gezeigt. Wie japanische, geflochtene Dildos und Penisringe hergestellt aus einer Wurzel.
Anna ist angekommen. Sie ist glücklich. Dabei muss sie jeden Tag kämpfen, um die Miete aufbringen zu können. Das Museum wurde vor dem ersten Lockdown gegründet. Es hatte noch keinen einzigen Tag geöffnet. Große Hoffnung setzt die Gründerin in ihr zweites Projekt. Demnächst wird „Pli“auf den Markt kommen – eine Online-Boutique für Erotikund Lifestyle-Produkte. Das Angebot soll sich an Kunden über 30 Jahre richten. „Ich glaube, dass diese Menschen für ihre gesunde und glücklich ausgelebte Sexualität nicht nur Spielzeug brauchen, sondern Dinge, die zum Wohlbefinden beitragen, wie tolle Bettwäsche, Düfte oder Beleuchtung.“
Und auch da wieder Sex. Anna und Sex. Mittlerweile eng verwoben. So sehr, dass sie regelmäßig anzügliche Nachrichten und Anrufe von Männern bekommt. Weihnachten musste sie sogar Anzeige erstatten. Ein verwirrter Mann stand vor ihrer Tür und meinte, sie seien ein Paar. „Seit ich als Gründerin eines Sexmuseums bekannt bin, meint jeder, ich sei für alles zu haben“, sagt Anna kopfschüttelnd. Doch das nimmt sie in Kauf. Zu groß ihr Wunsch, endlich selbstverständlich über Sexualität zu sprechen.