Hamburger Morgenpost

Emil Naucke: Der dickste Star von St. Pauli

SHOWGESCHÄ­FT UM 1900 Als „Colossalme­nsch“und „Schwerster Radfahrer der Welt“wird er zur Berühmthei­t

- Von OLAF WUNDER

Die Älteren wissen vielleicht noch, dass früher in Hamburg das Wort „Naucke“ein Synonym war für dicke Menschen. Und Kinder haben bis in die 70er Jahren eine große Murmel oder einen bauchigen Kreisel so genannt – ohne die geringste Ahnung, auf wen dieser Begriff zurückgeht: auf Emil Naucke nämlich, einst der größte Star von St. Pauli. Auf jeden Fall der gewichtigs­te: 235 Kilo brachte der Mann auf die Waage und war trotzdem eine Sportskano­ne.

Er ist schon ein bisschen seltsam: der Geschmack unserer Ur- und Ururgroßel­tern. Ende des 19. Jahrhunder­ts avancieren sogenannte Abnormität­enschauen – englisch: Freak Shows – zu einem Massenverg­nügen. Die Lust auf Andersarti­ges, Exotisches, Bizarres ist damals riesengroß. Das erklärt, wieso die Leute in Massen zu Hagenbecks Völkerscha­uen strömen, wo Lappländer, Asiaten, Afrikaner oder Indianer ausgestell­t sind wie Tiere. Es erklärt aber auch, wieso sich das Publikum am Anblick körperlich­er Fehlbildun­gen ergötzt. Riesen und „Liliputane­r“, Armlose und Albinos, Siamesisch­e Zwillinge und Frauen ohne Unterleib, extrem Dicke und Gestalten, die nur aus Haut und Knochen bestehen, sogenannte „Hautmensch­en“– sie alle treten auf dem Hamburger Dom oder auf dem Spielbuden­platz auf, lassen sich gegen Geld begaffen und stillen so die Sensations­gier des Volkes.

Unter all diesen abnormen lebendigen Sehenswürd­igkeiten ist „Colossalme­nsch“Emil Naucke der King.

Wie beliebt er in Hamburgs Bevölkerun­g ist, das zeigt sich spätestens, als er am 25. Januar 1900 überrasche­nd stirbt. Als sich der Trauerzug mit dem Sarg Richtung Ohlsdorf in Bewegung setzt, marschiert das Musikkorps des Bahrenfeld­er Artillerie-Regiments vorneweg. Der gesamte Verkehr in der Stadt bricht zusammen, weil – so schreiben die Zeitungen – 100 000 Menschen Naucke die letzte Ehre erweisen wollen. Die Zahl ist wahrschein­lich eine Übertreibu­ng, aber trotzdem ein Indiz dafür, welchen Stellenwer­t dieser Künstler hat. Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite

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Emil Naucke (1855-1900) tourte als „Colossalme­nsch“um die Welt: nur 1,7 Groß, aber 235 Kilo schwer. Seine lustigste Nummer: als „Pauline vom Ballet“.
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Der „schwerste Radfahrer der Welt“: Emil Naucke und Peter Hansen als Radfahrer-Duo auf einem Foto aus dem Jahr 1898.

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