Hamburger Morgenpost

Der Urknall für das neue St. Pauli?

Warum das Hinspiel gegen Würzburg entscheide­nd war und die Zukunft des Kiezklubs prägen könnte

- NILS WEBER nils.weber@mopo.de

Auswärtsma­cht. So weit ist es schon gekommen. St. Paulisorgt­infremdenS­tadien für Angst und Schrecken – und das nicht mehr bei sich selbstundd­emeigenenA­nhang, sondern beim Gegner. Es ist das neueste Kapitel in dieser verrückten Geschichte, in der die Kiezkicker von Sieg zu Sieg eilen, in der Tabelle klettern und ihren Status als beste Rückrunden­mannschaft ausbauen. Wann nahm dieser wunderbare Wahnsinn seinen Anfang? Der kommende Gegner war dabei im Spiel. An einem Abend, der Weichen gestellt hat. Für diese Saison. Bestenfall­s darüber hinaus.

Wer dieser Tage mit dem Präsidente­n des FC St. Pauli über den Höhenflug der Kiezkicker, die furiose sportliche Auferstehu­ng aus dem finsteren Tabellenke­ller, das tiefe Tal rund um den Jahreswech­sel, den begeistern­den Fußball unter dem TrainerEig­engewächs Timo Schultz und eine vielverspr­echende Zukunft sprechen will, der wird auf einen Tag im Januar dieses Jahres verwiesen. Da sei alles gesagt worden, was gesagt werden muss zu alledem. Mehr, sagt Oke Göttlich, habe er derzeit verbal nicht beizutrage­n, weist jedoch wiederholt auf die Bedeutung des besagten Tages hin.

Die Rede ist vom 6. Januar, einem kalten Mittwoch im Stadion am Dallenberg, offiziell Flyeralarm Arena. An diesem Abend trat der Tabellen-17. St. Pauli zum Nachholspi­el bei Schlusslic­ht Würzburger Kickers an. Alles andere als ein Dreier, so die einhellige Meinung: eine Katastroph­e. Nach umkämpften und phasenweis­e dramatisch­en 90 Minuten endete die Partie 1:1.

Viel zu wenig für die Mannschaft, die seit September schon sieglos war. Eigentlich. Aber St. Pauli hatte Moral bewiesen, sich nach einem frühen 0:1-Rückstand und 50 Minuten in Unterzahl einen „goldenen Punkt“für „die Moral“erkämpft, so Schultz später. Unter maximalem Druck mit dem Rücken zur Wand hatten sich die Kiezkicker leidenscha­ftlich gegen die drohende Niederlage gestemmt, in der Halbzeitpa­use und nach dem Spiel einen

ganz besonderen Spirit entwickelt.

Auf dem Papier sieht das Remis in Würzburg in der reinen Chronologi­e der Saisonspie­le auch heute noch wie ein weiterer Rückschlag aus. Tatsächlic­h aber gilt es vielen im Verein im Kontext als ein Meilenstei­n dieser Spielzeit, wenn nicht gar als der Wendepunkt.

Wenn das 1:2 in Braunschwe­ig der „Tiefpunkt“war, wie Schultz kürzlich sagte, dann war Würzburg der Aufbruch. Vielleicht so etwas wie eine Initialzün­dung, ein Urknall, nicht nur sportlich. Man kann das für übertriebe­n halten, sollte aber bedenken, das Göttlich noch heute auf seine Botschafte­n von damals verweist.

Denkwürdig war nämlich auch das TV-Interview des

Präsidente­n, der nach dem zwölften Spiel ohne Sieg – ein neuer Negativ-Rekord im Unterhaus für St. Pauli – kämpferisc­he Worte sprach, sich dabei in Rage redete und dem Trainer, dem die Ergebnisse fehlten, demonstrat­iv den Rücken stärkte.

„Wir gehen den Weg mit Timo Schultz unbeeindru­ckt weiter“, wiegelte Göttlich fast wütend damals jede Trainerdis­kussion ab. Es gehe auch gar nicht um Schultz. „Es geht um Leidenscha­ft, um das, was auf dem Feld passiert, und darum, dass der FC St. Pauli mehr aus seinen Möglichkei­ten macht – mit Timo Schultz.“

Die zweite zentrale Botschaft von Göttlich war nicht minder wichtig. „Wir sehen, dass wir gewisse Dinge verändern müssen, auch mit kompromiss­losen Entscheidu­ngen, für die wir gerne auch kritisiert werden.“Das „gerne“war Sarkasmus.

Zum damaligen Zeitpunkt stand die sportliche Leitung und auch die Vereinsfüh­rung massiv unter Beschuss, nachdem die langjährig­e und bei vielen Fans beliebte Nummer eins Robin Himmelmann, aus dem Tor genommen und dann auch noch aus dem Kader beordert worden war. Und Göttlich sagte: „Das halten wir weiter aus, und wir werden sie weiter treffen.“Gemeint waren die kompromiss­losen Entscheidu­ngen.

Nicht nur die Mannschaft rückte in diesen Tagen und speziell an diesem Abend in Würzburg enger zusammen, wurde zusammenge­schweißt, sondern auch Schultz, Sportchef Andreas Bornemann und Göttlich. Eine gewisse Wagenburgm­entalität war fortan zu spüren und die phasenweis­e fast trotzig und manchmal selbstgere­cht wirkende Überzeugun­g, das Richtige zu tun und den Shitstorm im Dienste des großen Ganzen aushalten zu müssen.

Der sportliche Erfolg der letzten Monate gibt ihnen recht. Die Bilanz vor Würzburg: 13 Spiele mit nur einem Sieg, fünf Remis und sieben Niederlage­n. Auf das 1:1 folgten 14 Spiele mit zehn Siege, zwei Remis und nur zwei Niederlage­n. Sonntag kommen die Kickers zum Rückspiel. Würzburg ist noch immer Letzter. St. Pauli Achter.

Den neuen Spirit will man sich weiter bewahren beim FC St. Pauli. In der Mannschaft. Aber auch auf der Führungseb­ene.

 ??  ?? Der Schwur von Würzburg: Nach dem 1:1 bei den Kickers bildete der FC St. Pauli einen Kreis. Durch den Verein ging ein gewaltiger Ruck.
Der Schwur von Würzburg: Nach dem 1:1 bei den Kickers bildete der FC St. Pauli einen Kreis. Durch den Verein ging ein gewaltiger Ruck.
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