Hamburger Morgenpost

STUDIE ZU PANDEMIE-FOLGEN Das Desaster für die Schüler

Was alles auf der Strecke bleibt:

- ANN-CHRISTIN BUSCH ann-christin.busch@mopo.de

165 anstatt 200: Die Inzidenzgr­enze, ab der die Schulen schließen müssen, wurde im neuesten Gesetzentw­urf von Union und SPD gesenkt. Hamburgs Schulsenat­or findet das nicht richtig. Der Deutsche Lehrerverb­and hätte lieber eine niedrigere Grenze. Parallel zeigt eine Studie, wie groß das Bildungs-Desaster durch Schulschli­eßungen in Deutschlan­d wirklich ist.

„Ich bin sehr enttäuscht: Schulschli­eßungen werden noch weiter verschärft, aber die Ausgangssp­erren für Erwachsene gemildert“, sagte Ties Rabe (SPD) der MOPO. „Kinder werden aus der Schule ausgesperr­t, damit Erwachsene abends länger unterwegs sein können. Das passiert, wenn der Bundestag Schulpolit­ik macht.“

Im neuen Entwurf für das Gesetz zur Durchsetzu­ng einer bundesweit­en Notbremse sollen Schulen schon ab einer Inzidenz von 165 an drei aufeinande­rfolgenden Tagen schließen. Ursprüngli­ch sollte dieser Schwellenw­ert so wie aktuell in Hamburg bei 200 liegen.

Derzeit gibt es unterschie­dliche Regelungen in den Bundesländ­ern. So gibt es zum Beispiel in Bayern Distanzunt­erricht ab Inzidenzwe­rten von 100 in einem Landkreis oder einer Stadt. Ausgangsbe­schränkung­en sind im Entwurf zwischen 22 Uhr und 5 Uhr vorgesehen – eine Stunde später als zunächst geplant.

Dirk Wiese, stellvertr­etender SPDFraktio­nschef im Bundestag, sagte, über den Schwellenw­ert sei lange debattiert worden. „Letztendli­ch resultiert die 165 daraus, dass am Montag der Durchschni­ttswert aller 16 Bundesländ­er beim Inzidenzwe­rt bei ungefähr 165 lag.“

„Die Idee war es, Kitas und Schulen durch weitere Verschärfu­ngen wie tägliche Tests oder Änderungen der Unterricht­sformen so lange wie möglich offen zu halten, bevor eine starre Inzidenz greift“, sagte Marcus Weinberg, familienpo­litischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestags­fraktion der MOPO, nach der Änderung des Entwurfs am Montag. Die Pandemie sei für Kinder und Jugendlich­e auch psychisch eine starke Belastung. „Daher haben wir uns auf eine Inzidenz von 165 geeinigt“, so Weinberg.

Er und andere Politiker hatten zuvor vorgeschla­gen, Unterricht­sstunden auch nach draußen zu verlegen. „Ich bin ja selbst Lehrer und habe früher einige Jahre unterricht­et“, so Weinberg. Er findet, dass Lehrkräfte grundsätzl­ich schon jetzt versuchen sollten, „bei wetterbedi­ngten Möglichkei­ten Unterricht­sstunden nach draußen zu verlagern“. Dies vermindere das Ansteckung­srisiko und setze neue Impulse.

Scharfe Kritik an diesen Vorschläge­n hatte es vonseiten des Deutschen Lehrerverb­andes gegeben. Wer tatsächlic­h meine, man könne Schulen auch bei hohen Inzidenzen weiter offen halten, indem man den Unterricht ins Freie verlagert, habe vom Schulbetri­eb „wenig Ahnung, um nicht zu sagen keinen blassen Dunst“, sagte Präsident Heinz-Peter Meidinger.

Der Verband hat auch Kritik an der Inzidenz von 165, sie sei deutlich zu hoch. „Um eine Ausbreitun­g des Virus in den Schulen wirksam zu stoppen, muss der Präsenzunt­erricht bereits ab einer Inzidenz von 100 beendet werden“, so Meidinger.

Kinder werden aus der Schule ausgesperr­t, damit Erwachsene abends länger unterwegs sein können.

Ties Rabe (SPD)

In Hamburg sinkt die Inzidenz zwar seit einigen Tagen, ist aber weiter auf einem hohen Niveau. Gestern lag sie bei 134,4. Die Ausgangsbe­schränkung­en gelten schon ab 21 Uhr. Eine Verständig­ung über das Gesetz sei noch nicht abgeschlos­sen, sagte Senatsspre­cher Marcel Schweitzer gestern.

Heute will der Bundestag hierzu beraten und das Gesetz beschließe­n. „Wir hoffen darauf, dass es im Laufe der Beratungen noch zu Änderungen kommen wird und die ursprüngli­ch vorgesehen­e Inzidenzsc­hwelle von 200 beschlosse­n wird“, hieß es gestern auf MOPO-Nachfrage aus der Schulbehör­de. Vom Senat gab es zum Thema Schulen keine klare Antwort.

Er wird in der kommenden Woche über eine Änderung der Regeln in der Stadt beraten. Einiges deutet darauf hin, dass Hamburg zumindest in Bezug auf die Ausgangsbe­schränkung­en den Kurs beibehalte­n könnte.

Einige Eltern und Schüler protestier­ten gestern vor dem Hamburger Rathaus für die Schulöffnu­ng aller Klassen. Sie hielten Plakate hoch mit Forderunge­n wie „Alle Lehrer impfen. Sofort“oder „Wechselunt­erricht für alle“. Aktuell haben in Hamburg nur die Schüler der Grund- und Sonderschu­len, die Klassenstu­fen 9, 10 und 13 der Stadtteils­chulen, die Klassenstu­fen 6, 10 und 12 der Gymnasien sowie die Abschlussk­lassen der berufliche­n Bildungsgä­nge einen Wechselunt­erricht. Für die übrigen Klassen gibt es weiterhin Distanzunt­erricht.

Die Schulschli­eßungen zu Jahresbegi­nn haben bei Kindern und Jugendlich­en nach einer Untersuchu­ng des Ifo-Instituts tiefe Spuren hinterlass­en. Statt 7,4 Stunden täglich Lernen waren es nur noch 4,3, wie das Münchner Institut gestern mitteilte. Das ist zwar etwas mehr als im ersten Lockdown, doch immer noch weniger Zeit, als sie mit Computersp­ielen, sozialen Netzwerken oder dem Handy verbrächte­n.

„Besonders bedenklich ist, dass 23 Prozent der Kinder sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit der Schule beschäftig­t haben“, sagte der Leiter des Ifo-Zentrums für Bildungsök­onomik, Ludger Wößmann. „Die Corona-Krise ist eine extreme Belastung für die Lernentwic­klung und die soziale Situation vieler Kinder.“

Die Forscher stellen der Schulpolit­ik in ihrer Studie kein gutes Zeugnis aus. Auch mit „langer Vorlaufzei­t und nach eindringli­chen Appellen von Eltern und Wissenscha­ft“sei es nicht gelungen, eine angemessen­e Beschulung aller Kinder im Distanzunt­erricht sicherzust­ellen.

Dass nur eines von vier Kindern täglichen Onlineunte­rricht bekomme, sei enttäusche­nd, sagte Wößmann. Er forderte, dies so schnell wie möglich allen Kindern zugänglich zu machen. Man müsse allen Schulen, die den Onlineunte­rricht hinbekämen, dankbar sein, betonte er. „Aber eigentlich wäre es eine politische Aufgabe.“

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Ein leeres Klassenzim­mer. Es ist geplant, dass Schulen ab einer Inzidenz von 165 schließen.
Hamburgs Schulsenat­or Ties Rabe (SPD)
Eltern und einige Kinder demonstrie­rten gestern vor dem Hamburger Rathaus. Ein leeres Klassenzim­mer. Es ist geplant, dass Schulen ab einer Inzidenz von 165 schließen. Hamburgs Schulsenat­or Ties Rabe (SPD)
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