ODIN UND DAS DOLLHOUSE
Wie ein Kiez-Gastronom die Zeichen der Zeit erkannte:
St. Pauli ist eine alte Dame, die sich ständig verändert. Mittags um eins hat nichts mit abends um neun zutunundmit morgens um zwei schon gar nicht.
Odin Janoske-Kizildag
Er hat Nächte mit Metallica und Guns n‘ Roses durchgemacht, ist der Erfinder des Dollhouses und der 99-CentBars. Seit mehr als 30 Jahren ist Odin Janoske-Kizildag (54) erfolgreich auf dem Kiez. Jetzt macht er in Autos – obwohl er keine Ahnung von Autos hat. „Ich steh an der Tankstelle und muss im Büro anrufen, weil ich nicht mal weiß, ob es ein Diesel oder Benziner ist“, sagt der Gastronom und lacht. Dabei gibt es für ihn und seine Kiez-Kollegen gerade wenig zu lachen. Aber aufgeben? Das kommt für den Mann, der St. Pauli seinen „Heimathafen“nennt, nicht infrage.
Schon während des ersten Lockdowns war Odin schnell klar: Seine Bar wieder aufmachen wird er für lange Zeit nicht. Deshalb nahm er das Angebot seines Freundes an, in dessen Smart-Handel in Winsen einzusteigen. Odin bezeichnet sich selber als die Tippse des Ladens. „Alles, was mit Büro zu tun hat, ist mein Bereich.“Im Nachtleben ist er ohnehin schon seit der Geburt seines Sohnes vor zehn Jahren nicht mehr.
Dabei hat der schlanke Mann mit der herzlichen Lache eine lange Karriere auf dem Kiez. Vor 31 Jahren eröffnete Odin seinen ersten Laden auf der Großen Freiheit.
Ein Zufall. Gemeinsam mit Freunden war er feiern. Aus Ermangelung an Toiletten pinkelten die Männer im Hinterhof des abgebrannten Star-Clubs. Odin entdeckte ein Schild „Zu vermieten“. Das war 1989. „Der Kiez war noch tot und kämpfte sich gerade aus der Aids-Krise. Die Leute waren verunsichert.“Es gab sterbende Cabarets und ein paar Kneipen. Sonst nichts.
Für Odin eine wunderbare Zeit mit viel Raum für Kreativität. Er übernahm den Laden mit 23 Jahren und machte daraus das Rock-Café. Der erste Club, der voll auf Rock setzte. „Das passte ins Milieu.
Die Luden sahen damals alle aus wie Bon Jovi mit ihren Dauerwellen und Oberlippenbärten.“Etliche Stars feierten bei ihm. Odin spielte mit Metallica Tischfußball, trank mit Iron Maiden und Guns n‘ Roses. Und musste sogar schon Toilettentüren aufbrechen, um unzurechnungsfähige Musiker vom Klo zu holen. „Das war komplett wild“, sagt Odin. Er berichtet voller Leidenschaft. Trotzdem gab er den Laden auf. Odin musste weiter. Muss er immer, wenn er ein Konzept erfolgreich umgesetzt hat. „Für mich ist die Herausforderung dann weg.“Denn Odin versteht sich nicht als Wirt, sondern Entwickler gastronomischer Konzepte.
Zumal er immer wieder Auszeiten von St. Pauli brauchte. Abstand nehmen von der Dauerparty Kiez. Von durchzechten Nächten. Vom Alkohol. „Ich habe immer ordentlich mitgefeiert“, sagt der Mann, der leidenschaftlicher Rotweintrinker ist und manchmal seine eigene Flasche mit in andere Kneipen nimmt. „Wenn es da keinen anständigen Rotwein gibt, nehme ich meinen mit. Aber ich bezahle dann Korkengeld. Das gebietet der Anstand.“So läuft das auf dem Kiez. Sein eigenes Getränk mitbringen sei in vielen Lä
den gegen Zahlung erlaubt.
Das prominenteste Beispiel für Korkengeld war bei Odin der Musiker Glenn Danzig, der stets „schwarze Witwe“trank – Champagner mit Guinness. „Meine Kellnerin war schon ganz panisch, als er reinkam, weil sie wusste, was er immer trinkt und wir es nicht dahatten.“Odin schlug ganz pragmatisch vor: Einfach Sekt mit Altbier mischen. „Das merkt der doch gar nicht.“Glenn Danzig nahm einen Schluck und spuckte ihn über den Tresen. Danach ließ er sich sein Getränk aus dem Tourbus holen – natürlich nicht, ohne „ein anständiges“Korkengeld zu zahlen. Odin haut lachend mit der flachen Hand auf den Tisch. Eine geile Zeit sei das gewesen – damals im Rock-Café.
Doch er musste weg. Weiter. Es ging für zwei Jahre nach Sylt. Odin nahm drei Leute vom Kiez mit, mietete ein Haus und eröffnete die „Wunderbar“in einer „richtig schönen Schwulenstraße“. Ein bisschen arbeiten und den Rest der Zeit am Strand abhängen – das war sein Plan. Der Laden lief gut. Zu gut. Den Strand sah er nicht. Also ging es wieder nach St. Pauli. „Ich komme immer reumütig zurück. Dieses Viertel fasziniert mich. St. Pauli ist eine alte Dame, die sich ständig verändert. Mittags um eins hat nichts mit abends um neun zu tun und mit morgens um zwei schon gar nicht.“Und er hatte auch schon einen Plan: das ehemalige Live-Sex-Theater Salambo übernehmen. Vorher musste er sich jedoch mit dem Besitzer der Immobilie einigen. Kein Geringerer als Willi Bartels. So saß Odin mit dem „König von St. Pauli“im Hotel Hafen Hamburg vormittags an der Bar, trank ein Bierchen, dazu Korn. „Damals musstest du kein Konzept schreiben. Willi hat dir zugehört und dann gab es einen Handschlag.“
Seine Idee für das Salambo schlug ein. Odin eröffnete gemeinsam mit seinen drei Partnern das Dollhouse. Während seiner Zeit auf Sylt hatte er Urlaub in Miami gemacht und das amerikanische Pendant kennengelernt.
So erfolgreich der TableDance-Laden heute ist, so schwierig war der Start. Es gab kaum Tänzerinnen. Das Publikum blieb aus. Und trotzdem jeden Tag Kosten von 3000 Mark. Erst als die Serie „Der König von St. Pauli“rauskam, ging es bergauf. Die Presse berichtete vom Kiez. Viele Läden wollten jedoch keine Journalisten reinlassen. Odins Tür stand weit offen. „Danach ist das Dollhouse durch die Decke gegangen. Es wurde noch schlimmer als in den Läden davor“, sagt er und meint damit die exzessiven Nächte.
Irgendwann kam es zum Bruch mit seinen Partnern. Odin war genervt „von mehreren Sachen“. Er musste weiter. Mal wieder. Es ging für ein halbes Jahr in die Karibik. Und dieses Mal klappte es mit der Auszeit. Doch die wurde ihm irgendwann zu langweilig. Er kam zurück nach St. Pauli und rief die 99-Cent-Bars ins Leben. Zu einer Zeit, in der große Clubs eröffneten, die Mieten stiegen und das Feiern immer teurer wurde. „St. Pauli war schon immer auch ein Auffangbecken für diejenigen, die nicht privilegiert sind. Deshalb wollten wir Kneipen schaffen, in denen man günstig feiern kann.“Knapp 20 Jahre gibt es die 99-Cent-Bars mittlerweile. Odin ist Geschäftsführer der Bar an der Gerhardstraße, seine Mutter kümmert sich um den Laden an der Großen Freiheit. „Mit 81 Jahren steht sie noch immer auf der Leiter oder wechselt Glühbirnen aus.“
Seit Jahrzehnten ist Odins Familie auf dem Kiez. Seine Oma war die erste Wirtschafterin im Eros-Center, der Opa Kellner, der Vater ebenfalls, dazu noch Seemann. Seine Mutter hatte eigentlich als gelernte Kinderkrankenschwester nichts mit St. Pauli zu tun. Kürzlich erfuhr Odin jedoch, dass sie in den 60er Jahren die Röcke der Huren in der Herbertstraße gekürzt hat. Eigentlich war für den Mann, der mit seiner „großen Liebe“, einer Sozialpädagogin, verheiratet ist, schon immer klar: Er will nicht Gastronom werden. Deshalb machte er eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. „Da habe ich ganz schnell gemerkt, dass ich keine Lust habe, mir was sagen zu lassen.“Also wurde er doch sein eigener Chef. Klar, auf St. Pauli.
Bereut hat er es nie. Auch wenn die Gastronomen gerade eine harte Zeit durchleben. Gemeinsam mit anderen Wirten rund um den
Vor der Pandemie war St. Pauli völlig überdosiert. Zu viele Leute, zu viel Lärm. Es ging nur noch um Kommerz.
Odin Janoske-Kizildag
Hans-Albers-Platz organisiert Odin die Aktion „Laut und hell vs. unbürokratisch und schnell“. Samstagsabends treffen sich die Betreiber vor ihren Läden, machen die Lichter und Musik an. Um zu zeigen, dass sie noch da sind. Dass sie nicht aufgeben. „Aber wir brauchen endlich echte Hilfe. Monatelang warten wir auf die Gelder. Und es sind ohnehin nur 90 Prozent Zuschüsse für die Fixkosten. Ohne eigenes Gehalt.“Wegen der Ausgangssperre wurde der abendliche Protest kürzlich untersagt. Odin ging juristisch dagegen vor. Und gewann – um seinen Erfolg einen Tag später in der Revision doch wieder los zu sein. Ein herber Schlag –
nicht nur für den Geschäftsführer der 99-Cent-Bar.
Den Wirten ist es verdammt ernst. Ihnen geht es darum, einen Weg vorgezeigt zu bekommen, eine Strategie. „Mir leuchtet nicht ein, warum die einzige Antwort der Politik ist, alle wegzusperren. Die jungen Leute treffen sich doch trotzdem. Wir müssen sie wieder aus der Illegalität rausholen. Mit Hygienekonzepten, die wir alle haben.“Zwar hofft Odin, dass die Läden alle überleben. Aber er wünscht sich auch einen Wandel. Vor der Pandemie sei St. Pauli „völlig überdosiert“gewesen. Zu viele Leute, zu viel Lärm. Überall Führungen von Kiez-Kennern, die keiner kennt. Er mochte nicht mal mehr über die Große
Freiheit schlendern. Es sei nur noch um Kommerz gegangen. „Ich hoffe, dass da wieder mehr Qualität reinkommt.“Bis es so weit ist, macht Odin weiter in Autos. Und auch danach will er dem Smart-Handel treu bleiben – ohne dem Kiez untreu zu werden. Denn das ist sein Heimathafen. Und den gibt er nicht auf.