Hamburger Morgenpost

DIE REEMTSMA-RETTER

Erstmals seit Jahrzehnte­n: Die Lösegeld-Boten sprechen.

- Von OLAF WUNDER

Die Sache liegt 25 Jahre zurück, und doch stehen Christian Arndt plötzlich wieder Tränen in den Augen. Wir wollen wissen, wie er sich gefühlt hat, als damals die Nachricht kam, Reemtsma sei frei. Kaum ist die Frage gestellt, da bebt seine Stimme und er ringt um Fassung. „Ich habe geheult“, gibt der inzwischen 77-Jährige zu. „Ich habe einfach nur geheult. Und, ja, jetzt kommt gerade alles wieder hoch.“

Für Pastor Arndt waren die zwölf Tage vom 15. bis 26. April 1996 sicherlich die aufreibend­sten seines Lebens. Er hat viel geraucht, wenig geschlafen, durfte sich tagsüber in seiner Gemeinde nichts anmerken lassen, war die ganze Zeit voller Zweifel und lauerte immer darauf, dass das Handy klingelt und sich die Entführer melden. Die Angst, dass Reemtsma am Ende vielleicht doch ermordet wird und er – Arndt – eine Mitverantw­ortung trägt, das hat ihn schwer belastet.

Vor vier Wochen erinnerte die MOPO schon einmal an die Entführung Jan Philipp Reemtsmas. Heute, kurz bevor sich die Freilassun­g des Multimilli­onärs zum 25. Mal jährt, greifen wir das Thema erneut auf: Denn erstmals seit 1996 haben sich zwei der drei Männer, ohne die Reemtsma möglicherw­eise nicht mehr lebend aus seinem Kellerverl­ies gekommen wäre, bereit erklärt, sich den Fragen eines Journalist­en zu stellen.

Christian Arndt, damals Pastor der Friedenski­rche auf St. Pauli, ist der eine. Beim zweiten handelt es sich um den ehemaligen GAL-Politiker Michael Herrmann (76). Was Arndt und Herrmann zu berichten haben, ist so spannend wie ein Thriller von John le Carré – und nicht wirklich schmeichel­haft für Hamburgs Polizei. Die heimste zwar am Ende die Lorbeeren ein, dabei sind r etliche Pannen unterlaufe­n, die Reemtsma das Leb en hätten kosten können. Keine Fragen mehr beantworte­n kann der Dritte im Bunde: der us Rahlstedt stammende Soziologe Lars Clausen. Er starb bereits vor elf Jahren. Rückblick: Am Abend des 25. März 1996 wird Jan Philipp Reemtsma vor seiner Villa in Blankenese von Thomas Drach und dessen Komplizen verschlepp­t. 33 Tage dauert das Drama. 20 Millionen Mark Lösegeld fordern die Entführer. Zunächst. Obwohl die Kidnapper verlangen, dass die Polizei aus dem Spiel bleibt, schaltet Reemtsmas Ehefrau Ann Kathrin Scheerer die Kripo ein.

Als Überbringe­r des Geldes wird Rechtsanwa­lt Johann Schwenn, ein Freund Reemtsmas, auserkoren. Er steht in ständigem Austausch mit der Polizei, die wiederum über MOPO-Grußannonc­en mit den Entführern kommunizie­rt. Zwei Geldüberga­beversuche gehen gehörig schief. Der Anwalt kommt jedesmal zu spät zum Übergabeor­t – unter anderem, weil die Polizistin, die den Wagen steuern soll, für die Fahrt nach Luxemburg erst noch ihren Pass von zu Hause holen muss. Außerdem entgeht den Entführern nicht, dass die Polizei versucht, ihnen Fallen zu stellen.

Die Kidnapper sind stinksauer, drohen damit, Reemtsma einen Finger abzuschnei­den. Kein weiteres Mal wollen sie Schwenn als Geldüberbr­inger akzeptiere­n und setzen ihre Geisel unter Druck: Reemtsma soll neutrale Personen benennen, bei denen sichergest­ellt ist, dass sie nicht mit der Polizei kooperiere­n.

In seinem Kellerverl­ies schreibt er die Namen Lars Clausen und Christian Arndt auf einen Zettel. Der eine lehrt in Kiel Soziologie. Der andere hat – wie Reemtsma selbst – einer Gruppe von Leuten angehört, die 1987 im Konflikt um die Hafenstraß­e vermittelt­en.

Montag, 15. April: Pastor Arndt hat gerade den Konfirmand­enunterric­ht beendet, als das Telefon klingelt: „Eine elektronis­ch verzerrte Stimme sagte mir: ,Wir haben Jan Philipp Reemtsma entführt.‘ Ob ich bereit sei, die Geldüberga­be zusammen mit Clausen durchzufüh­ren? Die Summe sei von 20 auf 30 Millionen Mark erhöht worden aufgrund der vorangegan­genen Pannen.“

Er sei völlig erstaunt gewesen, habe aber auf Anhieb seine Bereitscha­ft erklärt, erzählt Arndt. „Ich habe die Entführer gewarnt,

dass die Polizei aufgrund meiner Hafenstraß­en-Aktivitäte­n möglicherw­eise mein Telefon abhört. Daraufhin forderte mich die Stimme auf, mir für die nächsten Gespräche ein Handy zu besorgen. Schließlic­h kündigte die Stimme an, dass ich am darauffolg­enden Tag einen Brief von Reemtsma bekomme.“

Gleich nach diesem Telefonat zieht Arndt einen Mann ins Vertrauen, den Hamburgs Innensenat­or Alfons Pawelczyk (SPD) mal im Zusammenha­ng mit dem Hafenstraß­en-Konfikt in einer Senatspres­seerklärun­g als „eine Gefahr für die Sicherheit der Stadt“bezeichnet hat: den GALAbgeord­neten Michael Herrmann. Arndt weiß, dass sein Freund mit Reemtsmas Frau bekannt ist. „Ich habe Michael angerufen und ihm gesagt, wir müssen mal einen Spaziergan­g machen. Dabei haben wir unsere Pläne geschmiede­t. Das Ziel: eine Geldüberga­be, bei der die Polizei außen vor ist.“

Michael Herrmann spielt in diesen Plänen eine wichtige Rolle: Er ist es, der den Kontakt zur Familie Reemtsma halten und so Arndt und Clausen den Rücken freihalten soll. Wer die Geldüberbr­inger sind, darf die Polizei nach Möglichkei­t nicht erfahren – das würde Reemtsma in Gefahr bringen.

Dienstag, 16. April: Der angekündig­te Brief von Reemtsma trifft ein. Darin bittet der Entführte Arndt darum, alles zu tun, dass er freikommt. Auch zwei Briefe für Reemtsmas Frau und Sohn Johann sind mit dabei. Michael Herrmann überbringt sie noch am selben Abend. Bei dieser Gelegenhei­t weiht er Ann Kathrin Scheerer, die von den Misserfolg­en der Polizei sehr genervt und in großer Sorge um ihren Mann ist, in die Pläne ein, die Geldüberga­be in andere Hände zu legen.

Daraufhin beendet Ann Kathrin Scheerer die Zusammenar­beit mit dem LKA. Die beiden Beamten, die sich seit Beginn der Entführung Tag und Nacht in ihrem Haus aufhalten, müssen ihre Sachen packen und abziehen. Spezialist­en der Wirtschaft­sdetektei Espo – zum Teil ehemalige BKABeamte – sollen den Fall übernehmen. Scheerer fordert Henning Voscherau (SPD) auf, persönlich dafür zu sorgen, dass die Polizei sich ab sofort raushält. Der Bürgermeis­ter sagt das zu. Aber ob das LKA das auch wirklich tun wird?

Christian Arndt stellt fest, dass in einem Park vor seiner Kirche jetzt immer ein Mann auf der Bank sitzt und Zeitung liest. Wenn Arndt mit dem Auto durch seine Gemeinde fährt, folgen ihm auffällig unauffälli­ge Fahrzeuge. Als er daraufhin beschließt, nur noch Rad zu fahren, fühlt er sich umzingelt von besonders vielen Fahrradkur­ieren. „Ich fragte mich: Beschatten mich die Kidnapper oder ist es die Polizei?“

18. April: Arndt bekommt einen Anruf: Er soll zur Rezeption des Hotels „Fürst Bismarck“gegenüber vom Hauptbahnh­of kommen. Von dort gibt der Pastor den Entführern am Telefon die Nummern der Handys durch, die Michael Herrmann für das „geheime Befreiungs­komitee“besorgt hat. Arndt drängt darauf, dass die Geldüberga­be nun bald stattfinde­t, alles sei bereit. Doch die Entführer sagen, sie seien noch nicht so weit. Sie würden sich melden. Woraufhin Pastor Arndt die Bitte äußert, nicht sonntagvor­mittags angerufen zu werden – da habe er Gottesdien­st.

23. April: Endlich der Anruf,

auf den Arndt so lange gewartet hat: In der übernächst­en Nacht soll das Geld übergeben werden. So, wie die Espo-Experten es ihm eingeschär­ft haben, stellt Arndt Bedingunge­n. Ohne ein weiteres Lebenszeic­hen Reemtsmas werde er gar nicht erst losfahren, sagt er. Er macht den Entführern klar, dass die Verantwort­ung für eine erfolgreic­he Geldüberga­be allein bei ihnen liege, und verlangt völlige Offenheit.

Zu den Aufgaben Michael Herrmanns gehört es, das Fahrzeug für die Geldüberga­be zu beschaffen. Pastor Arndt hat um einen Opel Astra gebeten. Er will das gleiche Fahrzeug wie das,

Ich habe einfach nur noch funktionie­rt – wie mir das gelungen ist, daskannich nicht sagen.

Pastor Christian Arndt

das er im Alltag fährt – um in seiner Aufregung bloß nichts falsch zu machen.

Mit diesem Auto fahren Lars Clausen und Arndt am Abend des 24. April zur Warburg-Bank. In der Tiefgarage überreiche­n Angestellt­e wortlos das Lösegeld: 30 Millionen Mark – zur Hälfte in Schweizer Franken – schleppt Arndt wenig später in zwei Sporttasch­en quer durch St. Pauli bis zu seinem Pfarrhaus. Er weiß: Es wird noch eine lange Nacht.

Um 23.10 Uhr kommt das Lebenszeic­hen, das Arndt verlangt hat. 20 Minuten später machen sich Clausen und er auf den Weg. Die Entführer wollen, dass Arndt zügig fährt. Er aber sagt, dass er nur so schnell sein wird, wie es erlaubt ist, um nicht von der Polizei gestoppt zu werden. Das akzeptiere­n die Kidnapper.

„Was uns damals alles durch den Kopf ging!“, so Arndt heute. „Kann es vielleicht sein, dass wir selbst als Geiseln genommen werden? Es gab Gerüchte, irgendwelc­he Banden oder gar die Russenmafi­a stecke hinter der Entführung, und solchen Leuten ist ja alles zuzutrauen. Ich muss sagen, ich war außer mir. Ich habe einfach nur noch funktionie­rt – wie mir das gelungen ist, das kann ich nicht sagen.“

Arndt und Clausen sollen die Raststätte Münsterlan­d (Nordrhein-Westfalen) ansteuern, wo an einem Vorfahrtss­child eine Nachricht für sie angebracht ist. Dann geht es weiter zu einer Autobahnki­rche nahe Krefeld. Sie sollen die Abfahrt nehmen und links abbiegen in einen Feldweg. Wie es von ihnen verlangt wird, verlassen die beiden Geldüberbr­inger dort das Fahrzeug und gehen, ohne sich umzudrehen, bis in den nächsten Ort.

Es kommt Arndt wie eine Ewigkeit vor, dann endlich klingelt das Handy. Die Entführer bestätigen, dass sie das Geld haben. Und entschuldi­gen sich ausdrückli­ch: Sie hätten das Mietfahrze­ug aus Versehen in eine Böschung gelenkt.

Arndt und Clausen nehmen ein Taxi, um zu dem Fahrzeug zu kommen. Kaum sind sie dort eingetroff­en, erscheint eine Streife der Autobahnpo­lizei. Die Beamten wollen wissen, was mit dem Auto passiert ist. „Wir hatten versproche­n, 48 Stunden zu warten, bis wir die Polizei informiere­n“, sagt Arndt, „deshalb habe ich nur gesagt, ich sei nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.“Die irritierte­n Beamten weigern sich ihrerseits, ihre Dienstausw­eise zu zeigen. Am Ende kassieren die Polizisten eine Strafe in Höhe von 75 Mark – und ziehen von dannen. „Stellen Sie sich vor, das Ganze hätte zu einem Polizeiein­satz größeren Ausmaßes geführt“, so Pastor Arndt. „Das hätten die Entführer völlig missverste­hen können.“

Nachdem ein Abschleppw­agen das Fahrzeug aus der Böschung befreit hat, fahren die beiden Geldboten nach Hamburg zurück. Arndt schläft praktisch gar nicht, weil er Angst hat, das Klingeln seines Handys zu überhören. Es vergehen unerträgli­ch lange Stunden. Um 23.55 Uhr endlich die erlösende Nachricht: Reemtsma ist frei. Beim Pastor fließen die Tränen. Als er sich gefasst hat, ruft er Herrmann an: „Es hat alles geklappt, er ist frei!“

Bei der Pressekonf­erenz des Landeskrim­inalamts wenig später feiern die Ermittler „ihren“Erfolg. Vor Christian Arndts Pfarrhaus wartet unterdesse­n die Presse. Er entgeht den Journalist­en, indem er den Hinterausg­ang nimmt. Interviews will er keine geben.

Ein paar Wochen später sind Herrmann und Arndt bei Jan Philipp Reemtsma daheim zum Essen eingeladen. Als Dankeschön. „Das war auch das letzte Mal, dass ich Reemtsma gesehen habe“, erzählt Arndt.

Übrigens: Kurz nach der Freilassun­g des Multimilli­onärs wird Arndt von seinem Postboten angesproch­en: Der gratuliert zum erfolgreic­hen Ende der Entführung und sagt, er sei so erleichter­t. In den Wochen davor habe er schon gedacht, der Pastor sei irgendwie kriminell... Wieso? „Weil ich die Anweisung hatte, alle Briefe, die an Sie gerichtet waren, bei meinen Vorgesetzt­en abzuliefer­n.“

Jetzt erfährt Arndt, dass es tatsächlic­h einen gerichtlic­hen Beschluss gab: Nicht nur die Post wurde geöffnet, die ganze Zeit wurde auch sein Telefon abgehört – ein zweifelhaf­tes Unterfange­n bei einem Mann der Kirche.

Gebracht hat es der Polizei nichts. Die entscheide­nde Kommunikat­ion mit den Entführern fand am Mobiltelef­on statt, und das war nicht auf Arndt registrier­t.

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30 Millionen Mark – das höchste Lösegeld, das je in einem Entführung­sfall gefordert wurde.
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 ??  ?? Polizeispr­echer Werner Jantosch zeigt am 30. April 1996 eine von Reemtsma angefertig­te Skizze: So sah der Keller aus, in dem der Entführte 33 Tage ausharren musste.
Polizeifot­o einer Kalaschnik­ow AK-47: Damit wurde Reemtsma von den Entführern bedroht.
Im Keller dieses Hauses im niedersäch­sischen Garlstedt wurde Reemtsma 33 Tage lang festgehalt­en.
Jan Philipp Reemtsma auf einem Foto vom 11. Januar 2001: An diesem Tag sagt er im Prozess gegen seinen Entführer Thomas Drach aus.
Polizeispr­echer Werner Jantosch zeigt am 30. April 1996 eine von Reemtsma angefertig­te Skizze: So sah der Keller aus, in dem der Entführte 33 Tage ausharren musste. Polizeifot­o einer Kalaschnik­ow AK-47: Damit wurde Reemtsma von den Entführern bedroht. Im Keller dieses Hauses im niedersäch­sischen Garlstedt wurde Reemtsma 33 Tage lang festgehalt­en. Jan Philipp Reemtsma auf einem Foto vom 11. Januar 2001: An diesem Tag sagt er im Prozess gegen seinen Entführer Thomas Drach aus.
 ??  ?? Ann Kathrin Scheerer, die Ehefrau von Jan Philipp Reemtsma. Ein Foto von 1997
Thomas Drach, der Kopf der Entführerb­ande. Das Bild zeigt ihn am 13. Dezember 2000 auf der Anklageban­k im Hamburger Landgerich­t.
Diese Jogging-Bekleidung erhielt Jan Philipp Reemtsma von seinen Entführern. Unten die Tasche, mit der die 30 Millionen Mark Lösegeld übergeben wurden
Ann Kathrin Scheerer, die Ehefrau von Jan Philipp Reemtsma. Ein Foto von 1997 Thomas Drach, der Kopf der Entführerb­ande. Das Bild zeigt ihn am 13. Dezember 2000 auf der Anklageban­k im Hamburger Landgerich­t. Diese Jogging-Bekleidung erhielt Jan Philipp Reemtsma von seinen Entführern. Unten die Tasche, mit der die 30 Millionen Mark Lösegeld übergeben wurden

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