Hamburger Morgenpost

Wenn Kinder zu Tätern werden

Corona als Aggression­s-Treiber:

- DANIEL GÖZÜBÜYÜK daniel.goe@mopo.de

Jedes Gewaltverb­rechen ist eins zu viel. Zwar spielen sich die meisten unter erwachsene­n Männern ab. Doch immer häufiger kommt es auch unter Jugendlich­en und Kindern zu schweren Auseinande­rsetzungen, teils mit Waffen, Verletzten – und sogar Toten. In Hamburg und auch deutschlan­dweit. Ist die Hemmschwel­le zur Gewaltbere­itschaft gesunken? Und wie groß ist der Einfluss von Corona?

Hamburg, 26. Januar: Ein 18-Jähriger wird gegen 19 Uhr in einer Unterführu­ng der alten Wilhelmsbu­rger Reichsstra­ße an der Rotenhäuse­r Straße von zwei Personen angegriffe­n. Später spricht man von einem Streit unter Teenies. Dabei wird das Opfer mit mehreren Messerstic­hen in den Oberkörper und ins Bein schwer verletzt. Der 18-Jährige überlebt den Überfall nur knapp ...

Sinsheim, 24. Februar:

Nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft lockt ein 14-Jähriger einen 13-Jährigen in ein Waldstück – und tötet ihn mit mehreren Messerstic­hen. Aus Eifersucht. Es soll um ein Mädchen gegangen sein. Der 14-Jährige war bis wenige Tage vor der Tat in einer Jugendpsyc­hiatrie untergebra­cht, weil er bereits davor einen anderen 13-Jährigen mit einem Messer verletzt hatte ...

„Depression und Aggression liegen sehr nah beieinande­r. Der eine reagiert so, der andere so“, sagt Sibylle Winter im MOPO-Gespräch. Sie ist stellvertr­etende Klinikdire­ktorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatri­e, Psychosoma­tik und Psychother­apie des Kindesund Jugendalte­rs an der Berliner Charité. Bei ähnlicher psychische­r Grundlage können die Reaktionen bei Kindern und Jugendlich­en deutlich unterschie­dlich ausfallen. Während einige sich zurückzieh­en und einen negativen Blick auf die Welt um sie herum entwickeln, reagieren andere mit Aggression, Gewalt – aber nicht jeder, der Gewaltfant­asien hat, lebt diese auch irgendwann einmal aus.

Die Medizineri­n ist der Meinung, dass die Pandemie einen Einfluss auf Kinder und Jugendlich­e hat. „Corona ist ein Stressfakt­or. Es wird nur über Erwachsene geredet, aber die Jugend kommt viel zu kurz. Sie wollen eine Autonomiee­ntwicklung durchlaufe­n, sich von ihren Eltern ablösen, was wichtig für ihre Entwicklun­g ist. Das und einfach das Miteinande­r mit anderen Jugendlich­en wird verwehrt.“PC- und Konsolen-Spiele, die über Gewalt funktionie­ren, seien schon etwas, glaubt Winter, was heutzutage mehr gespielt werde als vor 20 Jahren. „Wenn man sich zurückzieh­t und sich damit bes chäftigt, wie es bei A mokläufern oft der Fall war, dann kann das schon eine Wirkung haben.“Auch g ewaltverhe­rrlichende H andy-Videos, die auf Schulhöfen regelmäßig die Runde machten, würden „die Grenze niederreiß­en“.

Winter berichtet, dass die Zahl der Kinder und Jugendlich­en mit psychische­n Erkrankung­en zunimmt. Es gebe Forschunge­n, die zeigten, dass wenn man die Umwelt als feindlich erlebe und alles zusammenko­mme, noch ein Messer habe, „dann fehlt da nicht mehr viel, dass man aktiv wird“. Winter ist sich sicher: „Corona hat eine Wirkung.“

Auf dem Papier vor allem die, dass die Zahlen registrier­ter Straftaten im JugendBere­ich abnehmen. Verzeichne­te die Hamburger Polizei im Jahr 2019 noch 3635 Tatverdäch­tige unter 21 Jahren, waren es im vergangene­n Jahr 3252. In Schleswig-Holstein sanken die Fälle, an denen Jugendlich­e beteiligt waren, von 3368 auf 2879.

„Jedes Jahr gibt es unschöne Auseinande­rsetzungen, auch mit Waffen“, sagt Jana Maring, Jugendbeau­ftragte des LKA Schleswig-Holstein. Darunter fallen auch die jüngsten Ereignisse aus Kiel und Flensburg: Im März wird Devid H. von zwei Maskierten überfallen, einer – ein 15-Jähriger – sticht ihm dabei laut Polizei ins Herz. Der 22-Jährige stirbt. Keine zwei Wochen später soll ein 19-Jähriger den 16 Jahre alten Jonas N. erstochen haben. Im Streit.

„Die Anzahl der festgestel­lten Rohheitsde­likte lässt jedoch nicht erkennen, dass es sich hier um ein wachsendes Phänomen im Bereich der Jugendkrim­inalität handelt“, so Maring. Die Gewaltdeli­kte blieben kontinuier­lich auf einem hohen Niveau und hätten sich im Laufe der Jahre nur geringfügi­g gesteigert.

Eine Studie des Deutschen Jugendinst­ituts zeigt, dass sich Jugendgewa­lt auf lange Sicht gesehen verändert hat. Schauen wir uns die Tatverdäch­tigen an, stellen wir fest, dass – gemessen an ihrem Bevölkerun­gsanteil – männliche Jugendlich­e häufiger mit Gewaltdeli­kten auffallen als Erwachsene. Auch die deutschlan­dweit registrier­ten Zahlen verdeutlic­hen, dass Jugendgewa­lt zunimmt – vor allem bei Kindern unter 14 Jahren, überwiegen­d im Bereich Körperverl­etzung.

Und obwohl vieles auf eine erhöhte Anzeigeber­eitschaft innerhalb der Bevölkerun­g hindeute, hätten auch Dunkelfeld­befragunge­n ergeben, dass ein Anstieg der Gewaltbere­itschaft zu erkennen sei – und dass die Taten zunehmen.

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Hat die Gewalt unter Kindern und Jugendlich­en zugenommen?
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Jana Maring ist Jugendbeau­ftragte des LKA Schleswig-Holstein.
Sibylle Winter ist Oberärztin der Kinder- und Jugend-Psychiatri­e an der Charité. Jana Maring ist Jugendbeau­ftragte des LKA Schleswig-Holstein.
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