Wenn Kinder zu Tätern werden
Corona als Aggressions-Treiber:
Jedes Gewaltverbrechen ist eins zu viel. Zwar spielen sich die meisten unter erwachsenen Männern ab. Doch immer häufiger kommt es auch unter Jugendlichen und Kindern zu schweren Auseinandersetzungen, teils mit Waffen, Verletzten – und sogar Toten. In Hamburg und auch deutschlandweit. Ist die Hemmschwelle zur Gewaltbereitschaft gesunken? Und wie groß ist der Einfluss von Corona?
Hamburg, 26. Januar: Ein 18-Jähriger wird gegen 19 Uhr in einer Unterführung der alten Wilhelmsburger Reichsstraße an der Rotenhäuser Straße von zwei Personen angegriffen. Später spricht man von einem Streit unter Teenies. Dabei wird das Opfer mit mehreren Messerstichen in den Oberkörper und ins Bein schwer verletzt. Der 18-Jährige überlebt den Überfall nur knapp ...
Sinsheim, 24. Februar:
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft lockt ein 14-Jähriger einen 13-Jährigen in ein Waldstück – und tötet ihn mit mehreren Messerstichen. Aus Eifersucht. Es soll um ein Mädchen gegangen sein. Der 14-Jährige war bis wenige Tage vor der Tat in einer Jugendpsychiatrie untergebracht, weil er bereits davor einen anderen 13-Jährigen mit einem Messer verletzt hatte ...
„Depression und Aggression liegen sehr nah beieinander. Der eine reagiert so, der andere so“, sagt Sibylle Winter im MOPO-Gespräch. Sie ist stellvertretende Klinikdirektorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters an der Berliner Charité. Bei ähnlicher psychischer Grundlage können die Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen deutlich unterschiedlich ausfallen. Während einige sich zurückziehen und einen negativen Blick auf die Welt um sie herum entwickeln, reagieren andere mit Aggression, Gewalt – aber nicht jeder, der Gewaltfantasien hat, lebt diese auch irgendwann einmal aus.
Die Medizinerin ist der Meinung, dass die Pandemie einen Einfluss auf Kinder und Jugendliche hat. „Corona ist ein Stressfaktor. Es wird nur über Erwachsene geredet, aber die Jugend kommt viel zu kurz. Sie wollen eine Autonomieentwicklung durchlaufen, sich von ihren Eltern ablösen, was wichtig für ihre Entwicklung ist. Das und einfach das Miteinander mit anderen Jugendlichen wird verwehrt.“PC- und Konsolen-Spiele, die über Gewalt funktionieren, seien schon etwas, glaubt Winter, was heutzutage mehr gespielt werde als vor 20 Jahren. „Wenn man sich zurückzieht und sich damit bes chäftigt, wie es bei A mokläufern oft der Fall war, dann kann das schon eine Wirkung haben.“Auch g ewaltverherrlichende H andy-Videos, die auf Schulhöfen regelmäßig die Runde machten, würden „die Grenze niederreißen“.
Winter berichtet, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen zunimmt. Es gebe Forschungen, die zeigten, dass wenn man die Umwelt als feindlich erlebe und alles zusammenkomme, noch ein Messer habe, „dann fehlt da nicht mehr viel, dass man aktiv wird“. Winter ist sich sicher: „Corona hat eine Wirkung.“
Auf dem Papier vor allem die, dass die Zahlen registrierter Straftaten im JugendBereich abnehmen. Verzeichnete die Hamburger Polizei im Jahr 2019 noch 3635 Tatverdächtige unter 21 Jahren, waren es im vergangenen Jahr 3252. In Schleswig-Holstein sanken die Fälle, an denen Jugendliche beteiligt waren, von 3368 auf 2879.
„Jedes Jahr gibt es unschöne Auseinandersetzungen, auch mit Waffen“, sagt Jana Maring, Jugendbeauftragte des LKA Schleswig-Holstein. Darunter fallen auch die jüngsten Ereignisse aus Kiel und Flensburg: Im März wird Devid H. von zwei Maskierten überfallen, einer – ein 15-Jähriger – sticht ihm dabei laut Polizei ins Herz. Der 22-Jährige stirbt. Keine zwei Wochen später soll ein 19-Jähriger den 16 Jahre alten Jonas N. erstochen haben. Im Streit.
„Die Anzahl der festgestellten Rohheitsdelikte lässt jedoch nicht erkennen, dass es sich hier um ein wachsendes Phänomen im Bereich der Jugendkriminalität handelt“, so Maring. Die Gewaltdelikte blieben kontinuierlich auf einem hohen Niveau und hätten sich im Laufe der Jahre nur geringfügig gesteigert.
Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zeigt, dass sich Jugendgewalt auf lange Sicht gesehen verändert hat. Schauen wir uns die Tatverdächtigen an, stellen wir fest, dass – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – männliche Jugendliche häufiger mit Gewaltdelikten auffallen als Erwachsene. Auch die deutschlandweit registrierten Zahlen verdeutlichen, dass Jugendgewalt zunimmt – vor allem bei Kindern unter 14 Jahren, überwiegend im Bereich Körperverletzung.
Und obwohl vieles auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft innerhalb der Bevölkerung hindeute, hätten auch Dunkelfeldbefragungen ergeben, dass ein Anstieg der Gewaltbereitschaft zu erkennen sei – und dass die Taten zunehmen.