Hamburger Morgenpost

Dramatisch­er Hilferuf aus Indien

Ein Arzt über den täglichen Albtraum:

- VON STEFAN DÜSTERHÖFT

Anfang des Jahres machte es den Eindruck, als hätte Indien Corona hinter sich. Jetzt überrollt eine gigantisch­e zweite Welle das zweitbevöl­kerungsrei­chste Land der Erde, auf den Intensivst­ationen ist die Lage so dramatisch wie nie. Den Kliniken geht der Sauerstoff aus, immer mehr Menschen sterben, auch junge. Wie konnte es dazu kommen?

„Was wir momentan erleben, ist ein einziger Albtraum“, sagt Dr. Gyan Vatsa, Direktor und Mediziner am Divya-Prastha-Hospital in Neu-Delhi. „Es fühlt sich an, als wären wir im Krieg.“Die MOPO erreicht Vatsa per Telefon, im Hintergrun­d schrillen die Alarmglock­en der Intensivst­ation, auf der er und seine Kolleg:innen im Dauereinsa­tz um Leben kämpfen.

Es ist ein Kampf, der in vielen Fällen nicht zu gewinnen ist. Neu-Delhis Ärzt:innen müssen jeden Tag entscheide­n, wem sie überhaupt noch helfen können. „Wir geben unser Bestes, um diejenigen zu retten, die irgendwie eine Überlebens­chance haben, meistens junge Menschen“, sagt Vatsa.

Für viele Ältere können er und seine Kolleg:innen nichts mehr tun. Sie sterben im Krankenhau­s oder kommen gar nicht erst rein. Alle Kliniken in Neu-Delhi sind massiv überlastet, mitunter teilen sich Patient:innen Betten. Fernsehbil­der und Fotos zeigen lange Schlangen vor den Krankenhäu­sern mit Menschen, die um Hilfe flehen. Auch in den sozialen Netzwerken häufen sich die Hilferufe – auch nach medizinisc­hem Sauerstoff. Denn der fehlt landesweit, vor allem in Mega-Städten wie der Hauptstadt Delhi mit ihren fast 19 Millionen Ein ohnern. „Jeden Tag e icken Menschen, weil wir sie nicht beatmen können – und wir fürchten, dass es so weitergehe­n wird“, sagt Klinikdire tor sa. tzt wird der ertvolle Sauerstoff durchs ganze Land geflogen und gefahren, Videos im Netz zeigen entspreche­nde Laster, die von der Polizei eskortiert werden müssen. In Neu-Delhi, wo kaum medizinisc­her Sauerstoff hergestell­t wird, kommt das lebensrett­ende Gas erst nach über 1000 Kilometern Fahrt an – für viele seiner Patienten zu spät, fürchtet Mediziner Vatsa. „Die Fallzahlen explodiere­n und wir können nur hilflos zusehen, wie immer mehr Menschen krank werden und terben.“

Seit Tagen meldet Indien traurige weltweltwe­ite Rekorde bei den Neuinfekti­onen, allein gestern waren es 352.991. Offizielle­n Angaben zufolge wurden zudem

28 12 Todesfälle binnen 24 Stunden registrier­t, doch die tatsächlic­he Zahl dürfte viel höher sein:

Forscher:innen und Journalist:innen berichten, dass die Zahl der Einäscheru­ngen von Covid-19-Opfern in ihren Regionen um ein Vielfaches höher liegt als die Zahl der offiziell bekannt gegebenen Corona-Todesopfer.

Wie konnte es dazu kommen? Es war wohl die zu frühe politische Fehlannahm­e, man habe die Pandemie unter Kontrolle. Zusammen mit einer wachsenden Sorglosigk­eit innerhalb der Bevölkerun­g: „Wir dachten, es wäre vorbei, wir hätten das Virus besiegt“, sagt Klinikchef Vatsa. „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass das Virus in dieser Form zurückkomm­t und uns so hart trifft.“

Anfang des Jahres sah es tatsächlic­h so aus, als wäre Indien in der Pandemiebe­kämpfung auf dem Erfolgskur­s. Premier Narendra Modi rief die größte Impfkampag­ne der Welt aus und die Infektions­zahlen purzelten. Schon seit Mitte September hatte das Land nach einem Höhepunkt von knapp 100.000 gemeldeten Neuinfekti­onen einen kontinuier­lichen Rückgang verzeichne­t, Mitte Februar wurden dann pro Tag nur noch gut 9000 tägliche Neuinfekti­onen gemeldet. Die Entwicklun­g verblüffte Experten:innen. War sie bereits bestehende­r Herdenimmu­nität zu verdanken? Dem jungen Durchschni­ttsalter der Bevölkerun­g (gerade einmal 28

Jahre)? Oder gab es vielleicht Kreuzimmun­itäten durch den weit verbreitet­en Kontakt mit anderen Erregern?

In jedem Fall: Indien machte sich locker, CoronaMaßn­ahmen wurden mehr und mehr zurückgeno­mmen. Erst kamen Tausende zu Cricket-Spielen, dann trat Premier Modi im regionalen Wahlkampf vor Hunderttau­senden auf, Schutzmask­en trugen dabei die wenigsten. Kritiker warfen Modi und seiner hindu-nationalis­tischen Indischen Volksparte­i vor, ein „Supersprea­derEvent“zugelassen zu haben. Und schließlic­h zogen im März und April wochenlang Hunderttau­sende zum Pilgerfest Kumbh Mela, wo sie dicht gedrängt im Ganges badeten. Da verbreitet­e sich die in Indien grassieren­de Mutante B.1.617 bereits, die

Infektions­zahlen schossen in die Höhe, Anfang April gab es erstmals über 100.000 gemeldete Neuinfekti­onen.

Jetzt sind es dreimal so viele und Besserung ist nicht in Sicht – während das Gesundheit­ssystem zusammenbr­icht und die Mediziner:innen in immer schlimmere

Situatione­n geraten. „Hier sterben viele Menschen, die gerade einmal 33, 34 Jahre alt sind“, sagt Klinikchef Vatsa. „Wir fühlen uns so hilflos, wie wir uns noch nie gefühlt haben in unserem Leben.“

Auf einen landesweit­en Lockdown will der Premier trotz allem verzichten, beschrieb entspreche­nde Maßnahmen erst vor einigen Tagen als letzte Option für die Bundesstaa­ten. In Städten wie Neu-Delhi herrscht hingegen Ausgangssp­erre. Bis die Maßnahmen Wirkung zeigen und sich die Situatione­n in den Krankenhäu­sern verbessert, werden viele Wochen vergehen, fürchtet Mediziner Vatsa. Wie das kollabiert­e Gesundheit­ssystem das überstehen soll, weiß er nicht. „Wir brauchen Hilfe von außen, sonst schaffen wir das nicht.“

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 ??  ?? Trauernde Angehörige vor einem Krankenhau­s in Neu-Delhi
Trauernde Angehörige vor einem Krankenhau­s in Neu-Delhi
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Öffentlich­e Feuerbesta­ttungen sind ein übliches Bestattung­sritual im Hinduismus. Krematorie­n, wie hier in Neu-Delhi, sind schon jetzt mit der wachsenden Zahl der Corona-Toten massiv überlastet.
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Immer mehr Menschen sind auf medizinisc­hen Sauerstoff angewiesen, doch der wird immer knapper. Hilfsorgan­isationen versorgen auf der Straße und in Autos die Menschen, die im Krankenhau­s keinen Platz mehr finden.
Ein Angehörige­r eines verstorben­en CoronaPati­enten bricht weinend zusammen. Immer mehr Menschen sind auf medizinisc­hen Sauerstoff angewiesen, doch der wird immer knapper. Hilfsorgan­isationen versorgen auf der Straße und in Autos die Menschen, die im Krankenhau­s keinen Platz mehr finden.
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