Hamburger Morgenpost

Wie Udo zur Legende wurde

Sein Achterbahn-Leben:

- Von OLAF WUNDER

Nein, singen kann er nicht. Und doch ist er ein musikalisc­hes Genie. Er ist einzigarti­g und unverwechs­elbar, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. „Was ist ein Popstar anderes als eine Gattung, die nur aus einer Person besteht?“, hat Kollege Kai Müller vom „Tagesspieg­el“mal über ihn geschriebe­n. Besser kann ich es auch nicht sagen. Gemeint ist er: Udo Lindenberg.

Er trägt ’nen Schlapphut, den er tiefer und tiefer ins Gesicht zieht. Daraus quillt sein wallendes Haar hervor. Ob es oben auch noch wallt – das wissen wir nicht so genau, da er sich ohne Kopfbedeck­ung eigentlich nicht in der Öffentlich­keit zeigt.

Wenn 75-Jährige Fantasie-UniformJac­ken und eng anliegende gestreifte Hosen tragen, dazu neongrüne Socken und knöchelhoh­e Reebok Classics, dann kann das ganz schön peinlich aussehen. Nicht bei ihm. Nein, der Lindenberg verkleidet sich nicht. Der ist so. Er spielt nicht coole Socke. Er ist die coole Socke. Keine Panik auf der Titanic. Und alles klar auf der Andrea Doria.

75 Jahre alt wird er also am Montag. Dank dieses runden Geburtstag­es schafft Lindenberg es jetzt sogar in die „Der Tag, an dem …“-Kolumne der MOPO. Warum auch nicht? Wenn es einen Musiker gibt, der Geschichte geschriebe­n hat, dann er.

Wie ausgerechn­et ich dazu komme, einen Text über Lindenberg zu verfassen, und nicht jemand aus der Musikredak­tion? Noch vor ein paar Tagen hätte ich damit selbst nicht gerechnet. Dann aber hat mich der Chef gefragt, ob ich das wohl mache. Weil er denkt, Leute meines Jahrgangs haben die Karriere des Panikrocke­rs ja live miterlebt. Wahrschein­lich glaubt er, ich sei ein Fan.

Bin ich aber nie gewesen. Ich hatte Schulfreun­de damals auf der AlbertSchw­eitzer-Realschule in Remscheid-Lennep, die total auf Lindi abfuhren, die jede Platte kauften, die der Panikrocke­r auf den Markt brachte. Plötzlich hörte man überall Lindenberg­s

Alliterati­onen. Elli Pyrelund i Rudi Ratlos. Ich daegen konnte über diesen

Humor nicht lachen. Konnte mit Lindenberg­s

chnodderig­er Art nichts nfangen. Seine Haare, as komische Dahergechl­urfe, diesen Schlaf

immerblick – fand ich ales doof.

Erst in letzter Zeit ist meine Aversion in Respekt

mgeschlage­n. Lindi ist äler geworden, ich auch –

ielleicht liegt es daran. Und jetzt, da ich mich ausgiebig mit seinem Lebenslauf beschäftig­t habe, fange ich sogar langsam an, ihn zu bewundern.

Geboren wird Udo Gerhard Lindenberg am 17. Mai 1946 in Gronau nahe der holländisc­hen Grenze. Er ist das zweite von vier Kindern, die Mutter Hermine zur Welt bringt. Vater Gustav ist Installate­ur, träumt heimlich davon, Dirigent zu sein. Immer wenn der Vater randvoll ist, weckt er mitten in der Nacht die ganze Familie, stellt sich auf den Küchentisc­h und dirigiert die Kinder, die ein Orchester mimen müssen.

„Damals“, so sagt Lindenberg später in einem Interview, „schwor ich mir, niemals so zu werden. Ich wollbreit te nicht nur der Dirigent meines eigenen Lebens sein!“

Lindi verlässt die spießige Enge Gronaus, beginnt eine Ausbildung zum Kellner, arbeitet in einem D üsseldorfe­r Hotel und macht nebenbei Musik in Altstadtal­s kneipen. Schon Kind hat er immer nur getrommelt, anfangs auf Ölfässern, dann auf dem Schlagzeug, das der

Papa ihm spendiert.

Der Junge ist als Drummer echt begabt, gewinnt 1960 eiNachwuch­swettsic nen bewerb, probiert h in

verschiede­nen Bands aus, studiert ein paar Semester an der Musikhochs­chule Münster, musiziert sogar in Klaus Doldingers legendärer Jazzrock-Formation Passport. Lindenberg ist mit von der Partie, als Doldinger die berühmte „Tatort“-Melodie einspielt.

Lindenberg­s Solokarrie­re beginnt Anfang der 1970er Jahre in Hamburg, als er das Panikorche­ster gründet. Gut, dass er keinen Sänger findet, denn nun muss er selber ran. Zur selben Zeit, als in der DDR Erich Honecker an die Macht kommt, die Amerikaner in Vietnam Agent Orange einsetzen und die „Sendung mit der

Maus“erstmals über den Bild

schirm flimmert, ja, genau zu dieser Zeit bringt Udo sein erstes Album raus. „Lindenberg“heißt es, er singt auf Englisch – und die Scheibe floppt.

Da beschließt er, es mal auf Deutsch zu probieren. Das ist sehr mutig, denn abgesehen von Ton Steine Scherben hat sich das bis dahin kein Rockmusike­r getraut. Es wird ein Mega-Erfolg! Mit „Andrea Doria“, seinem dritten Album, wird der Mann, der mehr nuschelt als singt, fast über Nacht zum Star.

Die Texte seiner Lieder sind ganz was Besonderes – das ist echt Literatur! Darin hält er den Spießern den Spiegel vor, macht den Menschen Mut, sich ihre Träume zu bewahren, wettert gegen Nazis, tritt für Abrüstung und Umweltschu­tz ein. Lindenberg­s Credo lautet: „Make love, not war.“

In seiner Anfangszei­t in Hamburg lebt Udo mit Leuten in einer WG zusammen, die damals noch genauso unbekannt sind wie er, es dann aber ähnlich weit bringen: Otto Waalkes und Marius Müller-Westernhag­en beispielsw­eise. Die Adresse der „Villa Kunterbunt“: Rondeel 29, Winterhude. Dort werden wilde Partys gefeiert, Lindenberg schreibt seine Lieder und trägt sie seinen Mitbewohne­rn vor. Es wird musiziert und geblödelt und manchmalgi­btesauchha­ndfesten Streit – darüber, wer den Abwasch macht, wer den Müll runterbrin­gt.

Legendär ist, wie Udo Lindenberg den DDR-Staatsrats­vorsitzend­en Erich Honecker durch den Kakao zieht. In den 80er Jahren ist Lindi nicht nur in West-, sondern auch in Ostdeutsch­land ein Star – und würde gerne eine Tour durch die DDR machen. Als ihm das verwehrt wird, schreibt er den Song „Sonderzug nach Pankow“. Unvergessl­ich diese Zeilen: „Ich hab ’n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker. Das schlürf ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker …“

Die Stasi schäumt. Und doch bekommt Lindenberg jetzt die langersehn­te Erlaubnis, im Palast der Republik aufzutrete­n – allerdings vor 4000 sorgsam ausgewählt­en Jugendlich­en. „Drinnen saßen nur linientreu­e Steifftier­e unter Valium, die echten Paniker forderten draußen ihren Udo“, erinnert er sich später. Vier Lieder darf er singen – und bevor er geht, ruft er in den Saal: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Weg mit allem Raketensch­rott in der Bundesrepu­blik und der DDR. Nirgendwo wollen wir eine Rakete sehen, keine Pershings und keine SS-20!“

Aus diesem Vorfall zieht die DDR-Führung Konsequenz­en und sagt Linden

Drinnen saßen nur linientreu­e Steifftier­e unter Valium.

Udo Lindenberg über den Auftritt im Palast der Republik 1983

bergs Konzerttou­rnee, die im Jahr darauf stattfinde­n soll, wieder ab. Bis 1990 müssen die Fans im Osten warten: Dann endlich spielt ihr Idol für sie.

Anders zu sein als sein Vater – das hat sich Udo Lindenberg vorgenomme­n. In einem Punkt aber gelingt ihm das nicht: Den Hang zum Alkohol, den hat er von ihm geerbt. 1989 erleidet er einen Herzinfark­t, säuft aber weiter, manchmal zwei Flaschen Whisky am Tag. Mit 50 ist er Alkoholike­r. Als er 55 ist, wird er mit 4,7 Promille ins Krankenhau­s eingeliefe­rt. „Ich hatte nur noch Restblut im Alkohol“, bekennt er freimütig. Die Nacht säuft er auf dem Kiez durch, und wer vor dem frühen Abend versucht, ihn zu erreichen, wird von der Telefonist­in des Hotels „Atlantic“,

in dem er wohnt, abgewimmel­t. „So früh dürfen wir ihn nicht stören.“

Im Dezember 1998 passiert dann an einem Sonntagmor­gen gegen acht Uhr Folgendes: Ein Arzt namens Dr. Günter P. möchte gerne in Ruhe frühstücke­n – und fühlt sich gestört vom besoffenen Lindenberg, der an einem Tisch am anderen Ende des „Atlantic“-Restaurant­s mit seiner Entourage Weihnachts­lieder schmettert. Der Arzt beschwert sich – mit dem Ergebnis, dass Lindenberg­s Begleiter ihn als „Wichser“und „Schlappsch­wanz“beleidigen. Lindenberg geht dem Arzt schließlic­h mit einem Rotweingla­s in der Hand nach und fordert das Hotelperso­nal auf, „den Kerl da“sofort aus dem Hotel zu werfen.

Abends wird in der Stadt die MOPO mit der Schlagzeil­e „Lindenberg – Pöbelei im Hotel“verkauft. Die Titelstory

ist von mir. Kaum bin ich vom Dienst zu Hause – ich sitze vorm Fernseher und sehe „Tatort“–, da ruft der Schauspiel­er Heinz Hoenig an und fordert mich in Lindenberg­s Namen auf, doch mal ins „Atlantic“zu kommen – einen trinken … Heute ärgert es mich, dass ich nicht darauf eingegange­n bin.

Lindenberg­s Bruder stirbt 2006 im Alter von 67 Jahren – dieser Verlust ändert für Lindenberg alles. Der Panikrocke­r kommt zur Besinnung. Wird wieder nüchtern. Und rät auch anderen vom Alkohol ab: „Man macht nur Mist und benimmt sich scheiße“, sagt er. Heute genehmigt Lindenberg sich nur noch ab und an ein Eierlikörc­hen.

Ohne Alkohol klappt’s auch wieder mit der Karriere. Zehn Jahre war er weitgehend weg vom Fenster, hat nur noch seine „Likörelle“gemalt. Aber 2008, im Alter von 61 Jahren, feiert er ein unfassbare­s Comeback. „Mann, ich hab mich selber fast verlor’n/ Doch so’n Hero stürzt ab, steht auf, startet von vorn“, singt er im Song „Ich zieh’ meinen Hut“und landet mit „Stark wie zwei“, seinem 35. Studioalbu­m, Top-Chart-Platzierun­gen. Im Juni 2011 gibt er ein „MTV-Unplugged“Konzert in Hamburg – ein Ritterschl­ag für jeden Musiker. 2011 startet sein Musical „Hinterm Horizont“und ist megaerfolg­reich – genau wie der Film „Lindenberg! Mach dein Ding“, der 2020 in die Kinos kommt.

Wetten, dass auch das Bestof-Album „Udopium“, das gestern anlässlich seines Geburtstag­s erschienen ist, ein Renner wird? Darauf vereint ist ein halbes Jahrhunder­t Musikhisto­rie. Vier Songs sind neu. Einer davon – er gefällt mir besonders gut – heißt „Wieder genauso“. Lindenberg zieht darin Bilanz.

Nachts besucht ihn der Tod und fragt: „Wenn du heute noch mal anfangen könnt’st von vorn: Welchen anderen Weg hätt’st du vielleicht genommen? Welche Partys ausgelasse­n? Und welchen Fehler nich’ gemacht?" Und wie fällt Lindenberg­s Antwort aus? „Ich würd’s wieder genauso tun, genauso, wie es war. Mit jedem Höhenflug und jeder Talabfahrt.“

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 ??  ?? Eierlikör – das Lieblingsg­etränk des Panikrocke­rs. Udo Lindenberg wird am Montag 75 Jahre alt.
Malen kann Lindenberg auch: Seine „Likörelle“sind heiß begehrt. „Andere denken nach, wir denken vor“, steht auf diesem Bild.
Eierlikör – das Lieblingsg­etränk des Panikrocke­rs. Udo Lindenberg wird am Montag 75 Jahre alt. Malen kann Lindenberg auch: Seine „Likörelle“sind heiß begehrt. „Andere denken nach, wir denken vor“, steht auf diesem Bild.
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