WO LUDEN BUCHEN
Kiez-Reisebüro: Nachts geöffnet, mit einem Scheich als Fan
Balearen ? Kanaren? Maryam Komeyli (58) hatte keine Ahnung, wo da der Unterscheid sein soll. Am Anfang ihrer Karriere schickte sie sogar mal zwei Frauen nach Sardinen, die eigentlich nach Galicien wollten. Mittlerweile ist die laute, herzliche Frau Topverkäuferin bei l’tur und Chefin des einzigen NachtReisebüros Europas – auf der Reeperbahn. Ihre „rosafarbene Ranch“inmitten des wilden Kiez-Westens. Der Ort, an dem Rapper schon mal versuchen, mit Goldzähnen zu zahlen, Zuhälter ihre Luxusreisen mit Geldbündeln begleichen und die Chefin eine innige Freundschaft zum Scheich von Ras alChaima verbindet.
Pinke Wände, pinke Bar, pinke Sessel – selbst die Blumen auf dem Stehtisch sind pink. Maryam steht hinterm Tresen – klar, pink – und schüttelt lachend den Kopf. Es scheint, als könne sie die Geschichte mit dem Scheich bis heute nicht fassen. Bei einer Reise durch Europa hatte er vor etwa 15 Jahren eine Reportage über Maryam gesehen. Eine Frau, die von morgens um vier bis abends um 23 Uhr im Reisebüro am Flughafen arbeitet, seit vielen Jahren keinen Urlaub gemacht hat – obwohl sie permanent mit Reisen zu tun hat. Das beeindruckte den Scheich derart, dass er über den TV-Sender Kontakt zu Maryam suchte. Er wollte ihr einen Urlaub in Dubai spendieren. Gesagt. Getan.
„Es war unglaublich. Ich habe das Schönste erlebt, was einem nur passieren kann.“Luxus-Hotels, Hubschrauber-Rundflug, Yachtausflug. Und zum krönenden Abschluss eine Audienz in seinem Palast. Der Beginn einer Freundschaft – die bis heute andauert. „Er ruft an, schickt Nachrichten“, sagt die gebürtige Iranerin, die als Mädchen mit fünf Erwachsenen und drei Kindern in einem Ford Taunus mit Dachgepäckträger nach Hamburg kam.
Gesehen hat Maryam den Scheich schon lange nicht mehr. Seit 14 Jahren hat sie keinen Urlaub gemacht. Keine Zeit. Maryam kümmert sich um ihr Baby. Das Reisebüro an der Reeperbahn, das sie liebevoll ihre kleine Ponderosa nennt – die Ranch aus der Fernsehserie „Bonanza“.
Wir haben einen sehr guten Draht zum sogenannten Milieu. Das sind die feinsten Jungs. Die halten ihr Wort, bescheißen dich nicht und bezahlen pünktlich. Maryam Komeyli
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Draußen tobt das pralle Leben. Drinnen dudelt LoungeMusik, Kunden sitzen auf pinken Sesseln, trinken Kaffee, blättern in Katalogen. „Wir müssen häufig den doppelten Service bieten. Bei uns gibt es keine festen Öffnungszeiten. Wir schließen frühestens um Mitternacht. Manchmal auch erst um 3 Uhr.“Und wenn Kunden morgens um 5 anrufen, wird das Telefon auf Maryams Handy oder das ihres Büroleiters Karim Adnane (33) umgeleitet. Sie gehen ran. Immer.
Aber nicht jeder Kunde bekommt, was er will. „Wir verkaufen keine Reisen an Betrunkene. Die sind nicht geschäftsfähig.“Häufig stolpern Partygänger in das Reisebüro und fordern: „Schick mich jetzt sofort nach Malle.“Maryam erwidert dann, dass sie schon alles klargemacht habe und sie morgen zum Bezahlen kommen sollen. „Draußen haben die längst wieder alles vergessen.“Warum sie die Betrunkenen nicht einfach rauswirft? Die Chefin schüttelt den Kopf. „Ich möchte, dass jeder Kunde das Gefühl hat, ernst genommen zu werden.“Auch wenn jemand nichts kauft, berät sie gerne. „Die kommen sicher irgendwann wieder“, sagt die Frau, die momentan nur etwa 20 Prozent des normalen Umsatzes macht.
Manchmal ist Maryam allerdings auch schwer genervt. Von Kunden, die jedes Mal die Flugpreise verhandeln wollen. „Unglaublich. Die tun so, als sei das die Fluggesellschaft meines Vaters. Sie wollen einfach nicht begreifen, dass ich die Preise nicht mache.“Oder von Männern, die Flüge für ihre Großfamilie buchen wollen. Zwei Erwachsene und 14 Kinder. Das Alter der Kinder: alle über 18 Jahre. „Die sehen gar nicht ein, dass sie für ihre Kinder den vollen Preis zahlen müssen.“Das sind Situationen, die die Reisebüro-Chefin noch lustig findet.
Keinen Spaß versteht sie, wenn sie draußen Obdachlose barfuß im Regen vorbeigehen sieht. Und sich drinnen gerade ein Kunde in einer Mail darüber beschwert, dass er zwei Wochen lang keine Pommes bekommen hat. Demut – das ist es, was Maryam durch den Kiez noch mal neu gelernt hat.
Die meisten Geschäfte wickelt die Reiseverkehrskauffrau zwischen 22 Uhr und Mitternacht ab. Ihre Kunden sind Anwohner, Partygänger vor der Party und Menschen, die auf dem Kiez arbeiten. „Wir haben einen sehr guten Draht zum sogenannten Milieu. Das sind die feinsten Jungs. Die halten ihr Wort, bescheißen dich nicht, bezahlen pünktlich.“Und das fast ausschließlich in bar. So kommt es vor, dass Maryam schon mal Bündel mit Hunderten über den Tresen geschoben werden. Am liebsten verreisen die „Jungs“zwischen Januar und März nach Thailand und auf die Malediven. Hauptsache, weit weg und luxuriös.
Krasser Gegensatz zum Alltag auf dem Kiez. Geprägt von Obdachlosen, die vor dem Reisebüro ihr Lager aufschlagen. Dann greift Karim Adnane ein und bittet sie, sich einen anderen Platz zu suchen. Manchmal verirren sich auch Pöbelnde in den Laden. Aber Stress gebe es nie. Skurrile Situationen erlebt Maryam hingegen ständig. So viele, dass sie ein Buch („Sie haben Ihr Baby am Airport vergessen“) darüber geschrieben hat.
Ihre verrückteste Geschichte auf dem Kiez: Im vergangenen Jahr buchte ein bekannter Rapper, „den Namen nenne ich nicht“, eine Reise. Erst wollte er selber zum Bezahlen kommen. Dann wollte er seinen Bruder schicken. Am Ende schob er der resoluten Frau ein Taschentuch über den Tresen. „Da waren Goldzähne drin. So komische Grillz. Goldene Dinger, die man über die Zähne zieht“, sagt Maryam und schüttelt sich, als sitze der Ekel noch immer tief. „Ich hab ihn nur gefragt, ob das hier ein türkischer Basar ist. Er konnte nicht verstehen, warum ich die Zähne nicht nehmen will“, sagt die Frau. Kurz vor der Reise zahlte der Rapper doch noch.
Ein Reisebüro auf der Reeperbahn – auf die Idee kam Maryam, die seit 35 Jahren für l’tur am Flughafen arbeitet, vor 17 Jahren. Sie war erkältet und wollte nachts frische Milch mit Honig kaufen. Die Frau fuhr kreuz und quer mit dem Taxi durch Hamburg. Nachdem sie mehrere Tankstellen angefahren hatten, ging es auf den Kiez. Endlich. Frische Milch und Honig. „Da kam mir die Idee ein Nachtreisebüro aufzumachen. Hier gibt es keine Sperrzeiten“, sagt
Ich liebe den Alltag auf dem Kiez. Das ist das reale Leben. Arm, reich, Hautfarbe, Religion, Geschlecht – das spielt keine Rolle.
Maryam Komeyli
die Frau, die Erdölkauffrau gelernt und BWL studiert hat. Schnell fand Maryam einen Laden. Ein ehemaliges Sex-Kino.
Der Einzug dauerte jedoch. „Das war unfassbar hier. Im Keller waren die Studios. Es war versifft, überall Ratten.“Für die Zentrale war die Reeperbahn außerdem ein gefährliches Pflaster. Schusssichere Scheiben und eine Alarmanlage mussten her. Maryam hat all das nicht abgeschreckt. Sie wollte dazugehören. Zum Kiez. „Ich liebe den Alltag. Das ist das reale Leben. Arm oder reich, die Hautfarbe, die Religion, das Geschlecht – das spielt hier keine Rolle.“
Maryam arbeitet gerne. Und das sieben Tage die Woche. Tagsüber ist sie nach wie vor am Flughafen, abends auf der Reeperbahn. Einen Tag habe sie Ruhe. Im Monat? Ach was, einen im ganzen Jahr. Am 1. Januar. Jahrzehntelang gab die Frau Vollgas. „Dafür habe ich einen hohen Preis gezahlt.“Die 58-Jährige kann sich nur langsam bewegen. Kollege Karim, ihre „größte Stütze“, hilft, wo er kann. Maryam leidet an einer Niereninsuffizienz. Sie ist Dialysepatientin und wartet auf eine Spenderniere.
Doch kürzertreten will die flippige, kleine Frau trotzdem nicht. Selbst während des Lockdowns hatte sie geöffnet. Morgens um 6 Uhr geht sie zur Dialyse, spätestens um halb zwölf ist sie wieder im Laden. Ob sie dafür nicht zu geschwächt sei? „Und? Wen interessiert das? Wenn ich mal Zeit finden sollte, denke ich drüber nach“, sagt Maryam lachend. Sie will sich nicht unterkriegen lassen. Von der Krankheit. Von den Schmerzen. Die Chefin will arbeiten. „Meine Kunden sind wie meine Kinder. Sie brauchen mich.“Und Maryam weiß genau: Auch sie braucht ihre Kunden. Und ihre Ponderosa. Ohne – das kann sie einfach nicht.