Als auf der Nordsee die Hoffnung vorbeikam
Gemütlich gleitet die Helgolandfähre durch die Wellen. Kein Schaukeln, kein Stampfen, fast einlullend bis langweilig verläuft die Passage. Ich sehe aus dem Fenster. Graue Nordsee, grauer Himmel – aber dann, wirklich: „Hoffnung“! An Deck des kleinen Krabbenkutters dampft ein Kessel, in dem die Fischer ihren Fang kochen. Am Heck flappen Möwen hinterher, und dort steht auch der Name.
Die erste „Geschichte vom Meer“schrieb ich auf der Nordsee, ebenfalls an Bord der Fähre von Cuxhaven. Damals besuchte ich unser Radio Ankerherz, das vom Unterland in alle Welt streamt. Folge 100 schreibe ich heute wieder auf diesem Schiff. Doch manches ist anders. Ich habe den Beleg eines negativen CoronaSchnelltests aus dem Hafen dabei, eine Genehmigung der Behörden und eine Frage im Gepäck: Wie soll es nach mehr als 200 Tagen im Lockdown für unseren kleinen Laden auf der Hochseeinsel weitergehen?
Ich habe versucht, das Thema Corona, sooft es ging, in der „Geschichte vom Meer“zu umschiffen. Zumindest die See sollte doch, bitte, coronafrei bleiben. Ein Aspekt aber war mir immer wichtig: die verzweifelte Lage Hunderttausender Seeleute, die in der Pandemie in einem Hafen oder an Bord strandeten. Auch der Kapitän des Kreuzfahrtschiffes „Diamond Princess“beeindruckte mich. Er wurde zum Helden, weil sein eiserner Optimismus verhinderte, dass eingeschlossene Passagiere und Crew durchdrehten.
Solche Geschichten möchte ich erzählen. Von Menschen, die für andere vieles riskieren, aber erstaunlich wenig Beachtung finden. Wie zum Beispiel von Jaap Pronk, einem Seenotretter aus Scheveningen in den Niederlanden, der 2675 Menschen das Leben rettete. 2675 – was für eine Zahl! Oder von Lilian Bilocca, Arbeiterin in einer Fischfabrik, die nach dem Untergang von drei
Trawlern ihre „Kopftuch-Revolution“in den Docks des englischen Hull startete, um die Arbeitsbedingungen von Fischern zu verbessern. Wie vielen Seeleuten sie das Leben rettete, vermag niemand zu sagen. Dass sie aber von den Reedern und Hafenbossen für ihre Courage bestraft wurde und verarmt starb, weiß in der Hafenstadt jeder.
Manchmal ging es trotz der düsteren Corona-Wolken heiter in meiner Kolumne zu. An den jungen Postboten aus Schottland, der ein altes Seemannslied namens „Wellerman“von einem Walfangschiff des Jahres 1860 auf Platz 1 der deutschen Charts im Jahre 2021 sang, wird man sich lange erinnern. Auch der „Jetski-Romeo“, der voller Liebeskummer quer über die stürmische Irische See knatterte, um seiner Freundin auf der abgeschirmten Isle of Man nahe zu sein, sorgte für manches Grinsen. Nur nicht beim Richter, der ihn für vier Wochen in den Knast schickte.
Die Lage der Fischer nach dem „Brexit“war immer wieder ein Thema, Umim weltsauereien auf See und Hamburger Hafen, ein Porträt des be-kloppten Liverpool oder die Havarie der „Atlantic Destiny“. Neben der Heimkehr der Viermastbark „Peking“nach Hamburg ist sie eine meiner liebsten KoMut lumnen. Sie handelt vom der Seeleute, die ihren untergehenden Trawler im Sturm retten wollen, und vom Köndie nen der Rettungsteams, sie heil rausholten. Was mich an Kapitän von Staa aus Cuxhaven erinnerte, der seinen Trawler nach einem Feuer an Bord erst verließ, als ihm sein Reeder ein Telegramm mit deutlicher AnNachrichsage zustellte.
Mich freuen ten und Mails der Leser. Manche schickten mir sogar Seefahrtsbücher und Fotos ihrer Angehörigen. „Mein Papa ist mal gefahren“, begann ein Brief, mit dem mir eine Frau kostbarste Erinnerungen anvertraute. Ich war gerührt.
Eine Kolumne machte mich wütend. Sie handelt vom Untergang eines Viehtransporters im Taifun vor Japan. 40 Seeleute und knapp 6000 Milchkühe starben. Kurz vor seinem Tode mailte der junge Kapitän, 34, er hieß Dante Addug, seiner Frau, mit der er vier kleine Kinder hatte. Seine letzte Nachricht: „Der Sturm ist jetzt so stark. Ich bete, dass es aufhört.“
Als die Geschichte auf der Facebook-Seite von Ankerherz erschien, meldeten sich radikale „Tierschützer“. Sie hätten „null Mitleid“mit den Ertrunkenen, verglichen die Crew mit „KZ-Aufsehern“und pöbelten mich an: das Wort „Viehtransporter“genügte, um sie wütend zu machen. Ich mag Tiere, doch ich habe mir das Wort „Viehtransporter“nicht ausgedacht.
In 100 Wochen ist vieles passiert, auch so manches, auf das man gerne verzichtet hätte. Eine Pandemie. Querdenker. Ein Ex-Präsident Donald Trump, der noch immer die Fundamente der ältesten konstitutionellen Demokratie der Welt angreift. Doch ich schreibe hier auch seit vielen Wochen: „Dahinten wird es hell“, wie beim Spaziergang am Strand, wenn man trotz dunkler Wolken auch immer weitergeht, in der Erwartung, dass sich die Lage schon bessert.
Ich sehe aus dem Fenster der Helgoland-Fähre, wie die Möwen an der „Hoffnung“dranbleiben. Ich nehme das als gutes Zeichen.