Hamburg historisch: Darum prägt roter Backstein die Stadt.
KLINKER Als die Stadt 1842 niederbrennt, ist das ein KonjunkturProgramm für Ziegeleien. In einer wird heute noch gearbeitet wie damals
Es hat ein bisschen was von Vulkanausbruch. Matthias Rusch steht hoch oben auf dem 140 Jahre alten Ofen, den sein Ururopa einst gebaut hat. Und dann tut er das, was er und seine Mitarbeiter mehrere Male jeden Tag machen müssen: Das Feuer im Innern will gefüttert werden. Dazu zieht der 52-Jährige mit einem langen Haken an dem Metallpfropfen, der auf dem sogenannten Schürloch sitzt, und schüttet Kohle in die Öffnung, aus der es rotglühend leuchtet. Da unten sind 1200 Grad Hitze. Und als die Kohle unten ankommt, ist es, als hätte er ein Ungeheuer geweckt. Funken sprühen, Flammen schlagen zwei Meter hoch. Spektakuläre Szenen. „Na, alles im Kasten?“, fragt Rusch lächelnd. Die MOPO-Fotografin Bettina Blumenthal nickt zufrieden.
Rusch ist Profi im Umgang mit Medien. Es vergeht kaum ein Monat, ohne dass er Besuch von Journalisten bekommt. Denn sein Klinkerwerk am Ritscher Außendeich in Drochtersen ist eine echte Sehenswürdigkeit. Eigentlich museumsreif. Und doch immer noch in Betrieb. 2,5 Millionen Klinkersteine werden hier jedes
Jahr produziert – das ist zwar gar nichts verglichen mit dem, was die größte deutsche Ziegelei schafft: 100 Millionen pro Jahr sind da Standard. Aber dafür liefert Rusch besondere Qualität. Jeder Stein ein Einzelstück. Ein Unikat.
1881, vor genau 140 Jahren, hat Ruschs Ururgroßvater Hinrich Rusch die Ziegelei gegründet. Vier Generationen später arbeitet der Ururenkel immer noch in derselben Halle und mit demselben Ofen. Sogar die alten Schuppen, in denen früher die Klinker trockneten, bevor sie gebrannt wurden, stehen noch – allerdings nur aus musealen Gründen. Rusch hat vor ein paar Jahren vier industrielle Trockenkammern gebaut. Damit geht’s schneller und verlässlicher.
Am eigentlichen Brennvorgang aber hat sich seit Ururopas Zeiten nichts geändert. 16 bis 18 Tage müssen die Ziegel im Ofen sein. Denn das langsame Abkühlen, sagt Rusch, sei genauso wichtig wie das Brennen selbst. Sonst würden die Steine reißen. Während der ganzen Zeit muss von oben durch die Schürlöcher im Abstand von 15 Minuten Kohle nachgeschüttet werden, damit das Feuer niemals ausgeht.
Schon im Mittelalter gab es längs der Elbe zwischen Hamburg und Cuxhaven etliche Ziegelbrennereien. Immer waren es Landwirte, die dieses Handwerk im Nebenerwerb betrieben. Der Standort war perfekt: Denn der Untergrund im Urstromtal der Elbe besteht aus Ton und Klei – genau die Materialien, aus denen Ziegel gebrannt werden.
Alte Urkunden belegen, dass es 1404 bei Stade eine Ziegelei gab, die im Auftrag des Hamburger Domkapitels arbeitete. Schon damals beförderten sogenannte „Steinschiffer“die fertigen Klinker auf ihren Ewern in Richtung Hansestadt.
Am 5. Mai 1842 ereignete sich in Hamburg die bis dahin verheerendste Katastrophe der Stadtgeschichte: der Große Brand. Vier Tage fraß sich eine Feuerwalze durch die Straßen, zerstörte mehr als ein Viertel des damaligen Stadtgebiets, tötete 51 Menschen, machte 20.000 Perso
nen obdachlos. 1700 Häuser, 102Speicher,dreiKirchen, das Rathaus, die Bank, das Archiv und das Commercium mit der alten Börse – alles ging in Flammen auf. Ganze Viertel mussten neu aufgebaut werden – und zwar diesmal aus Stein und nicht aus Holz. Um eine weitere Feuersbrunst zu verhindern.
Klinker waren mit einem Mal gefragt. Für die Bauern, die in den vorausgegangen Jahren unter schlechter Ernte gelitten hatten, ein Glücksfall. Im Alten und im Kehdinger Land gab es einen regelrechten Boom: Zu besten Zeiten sollen weit mehr als 100 Ziegeleien existiert haben. Überall rauchten die Schornsteine.
Auch als der Wiederaufbau vorbei war, ließ Hamburgs Hunger nach Steinen nicht nach. Die Hafenstadt entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer der führenden Metropolen Europas. Die Zahl der Einwohner nahm rapide zu – von 148.000 im Jahr 1846 auf 705.000 im Jahr 1900. Und um Wohnquartiere aus dem Boden zu stampfen, waren wieder Klinker nötig.
Ziegel waren auch nach dem Zollanschluss Hamburgs gefragt, als nämlich an die Stelle des alten Wandrahm- und Kehrwieder-Viertels die Speicherstadt trat. Infolge der Cholera-Epidemie wurden die Gängeviertel abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Es entstand die Kanalisation, die
Flaniermeile Mönckebergstraße mit ihren neuen Häusern links und rechts, der (alte) Elbtunnel …
All das, ja, der gesamte Aufstieg Hamburgs zur Weltstadt, wäre nicht denkbar gewesen ohne Baumaterial.
Unentwegt waren Ewer von der Niederelbe in Richtung Hamburg unterwegs und transportierten neben Äpfeln und Kirschen den Baustoff, der das Antlitz der Hansestadt bis heute prägt: dieZiegel.
Die Nachfrage war s groß, dass die Beriebe enthal Arbeitskräfte n auswärts anwerFoto:Blum en mussten. Viele amen aus dem Liper Land im heutig en NordrheinWestfalen. Dort hatte die fortschreitende Industrialisierung sehr vielen Heimarbeits-Webern die Existenz genommen. Die Weber schulten um auf „Ziegelbäcker“und waren von da an von April bis Oktober in den Ziegeleien an der Elbe tätig. Zu Spitzenzeiten soll es zwischen Hamburg und Cuxhaven rund 3300 Ziegelarbeiter gegeben haben.
Für die Entwicklung der Ziegelbrennerei war eine Erfindung sehr wichtig, die 1859 ein gewisser FriedrichEduard Hoffmann machte:
Er ließ sich den sogenannten Ringofen patentieren – der die vorher verwendeten primitiven Erdöfen ablöste und den Grundstein für die industrielle Massenproduktion legte. Ein solcher Ringofen besteht aus mehreren Brennkammern, die als kreis- oder ellipsenförmiger Ring angeordnet sind. Mit so einem Ofen arbeitet die Firma Rusch in Drochtersen seit 140 Jahren.
Woraus Matthias Rusch seine Ziegel eigentlich herstellt? Das genaue Rezept