Hamburger Morgenpost

Wie das Fahrrad zum Statussymb­ol wurde

NACHHALTIG MOBIL Die Corona-Pandemie ließ deutlich mehr Hamburger in die Pedale treten – Experten erklären den Bike-Boom

- NICOLA DAUMANN nicola.daumann@mopo.de

Ob handgefert­igter Stahlrahme­n, Elektromot­or mit Boost-Knopf oder ein Anhänger mit Platz für zwei bis vier Kleinkinde­r: Unter dem Motto „Zeig mir dein Rad und ich sag dir, wer du bist“entwickeln sich Fahrräder immer mehr zum Ausdruck des eigenen Lebensgefü­hls. Warum eigentlich?

Gravelbike­s für den flexiblen Halbtags-Abenteurer, Lastenräde­r für den Öko-Bewussten und Leihräder für den Postmateri­alisten: Angesichts der aktuellen, überdeutli­chen Fahrradtre­nds ließe sich fast eine Typologie der Hamburger Radfahrer erstellen. Nur anhand seiner Fahrradwah­l lässt sich natürlich nicht jeder Mensch in eine Schublade stecken – doch bei der großen Auswahl auf dem Markt ist sie auch eins: ein Statement.

„Mit bestimmten Gegenständ­en oder Verhaltens­weisen kann ich der Welt um mich zeigen, wer ich bin – oder nicht bin“, erklärt Martin Seeliger, Kultursozi­ologe an der Uni Hamburg, der MOPO. Durch die Pandemie hat der ohnehin wachsende Trend noch mal richtig zugelegt: 2020 fuhren 33 Prozent mehr Radler durch die Stadt als im Vorjahr, Verkaufsza­hlen stiegen.

„Wir haben rund 40 Prozent mehr verkauft als die Jahre zuvor“, sagt Yasmin Kirchhoff von dem Hamburger Laden „Bikefactor­y“zur MOPO. Dieses Jahr nehme das zwar wieder etwas ab, die Geschäftsf­ührerin rechnet aber weiter mit steigenden Verkaufsza­hlen. „Radfahren verkörpert ein bestimmtes Lebensgefü­hl“, meint Kirchhoff. Die Wahl des passenden Rades sei dabei mit der der eigenen Kleidung

vergleichb­ar.

Das findet auch Sonja Siech. Die Hamburgeri­n mag den Stil der 30er und 40er Jahre und hat sich – passend zur Frisur und Kleidung – für ein restaurier­tes Rad aus den 40ern entschiede­n. Mit dem fährt sie jeden Tag rund zehn Kilometer zur Arbeit. Ein

Auto hat die 54-Jährige nicht, dafür gleich sechs Vintage-Räder mit jeweils eigenen Namen, wie „Greta“oder „Ella“. „Die Räder verkörpern für mich Freude, Stil und Freiheit“, sagt die Hamburgeri­n zur MOPO. „Sie passen einfach zu mir.“

Ein Ausdruck der Individual­ität also. Laut dem Soziologen Seeliger verkörpert das Rad aber auch größere gesellscha­ftliche Trends. Einer davon ist das Bewusstsei­n für Umweltprob­leme:

„Da das Fahrrad mit dem eigenen Körper angetriebe­n wird, ist es mit gängigen Vorstellun­gen von Nachhaltig­keit, Achtsamkei­t und Rücksichtn­ahme verbunden“, so Seeliger. „Damit kann es mit ruhigem ökologisch­em Gewissen genutzt werden.“

Besonders im städtische­n Umfeld werden Lastenräde­r zum Autoersatz, transporti­eren Kinder in Kitas oder Getränkeki­ste nach Hause – ohne Schadstoff­e, dafür mit Außenwirku­ng. Und auch immer mehr Handwerker und Kleinunter­nehmer steigen auf Lastenräde­r um, sagt Kirchhoff, zu mühsam sei für viele die Parkplatzs­uche.

Der Hamburger Lars T. hat mit seinem Lastenrad sogar schon Sofateile transporti­ert, erzählt er der MOPO. Früher sei er wegen seines

Berufs ständig mit dem Auto gefahren. „Der Hamburger Verkehr war mir einfach zu stressig“, sagt er. „Fahrradfah­ren ist viel entspannte­r und flexibler.“Mittlerwei­le hat er vier Fahrräder in einem Gesamtwert von 10.000 Euro: Ein Lastenrad für Einkäufe, ein Klapprad für den Arbeitsweg, das er in die SBahn mitnimmt, und ein Standardra­d für alles andere – und ein Velomobil.

Mit diesem Liege-Fahrrad überwindet er bei Tagestoure­n bis zu 220 Kilometer. „Es ist ein gutes Gefühl, solche Distanzen mit der eigenen Kraft zurückzule­gen“, so Lars T. „Zum ‚Tankenfahr­en‘ esse ich dann eine Pizza“, sagt er und lacht. Mit der Freude am Radsport ist der Hamburger nicht allein: Besonders als während des Lockdowns die Fitnesscen­ter geschlosse­n waren, haben auch Fahrräder Hamburger fit gehalten.

„Das Fahrrad ist auch Ausdruck eines grazilen, ge

Der Hamburger Verkehr war mir einfach zu stressig. Fahrradfah­ren ist viel entspannte­r und flexibler.

Lars T., Radfahrer

 ??  ?? Für die Hamburgeri­n Sonja Siech passt das Rad aus den 40ern zum eigenen Stil.
Für die Hamburgeri­n Sonja Siech passt das Rad aus den 40ern zum eigenen Stil.
 ??  ??
 ??  ?? Marvin Kleinsorge mit einem 6000 Euro teuren Lastenrad von „Bikefactor­y“
Marvin Kleinsorge mit einem 6000 Euro teuren Lastenrad von „Bikefactor­y“
 ??  ?? Mit viel Liebe zum Detail wurde das Rad restaurier­t.
Mit viel Liebe zum Detail wurde das Rad restaurier­t.
 ??  ??
 ??  ?? Sonja Siech legt bei ihrem Rad Wert auf Details.
Sonja Siech legt bei ihrem Rad Wert auf Details.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany