„Für mich war mein Vater ein lustiger Gangster“
ST. PAULI Charly Carstens wuchs als Sohn der Kiez-Größe „Dakota-Uwe“auf, der stets eine Schrotflinte unter dem Bett hatte. Eine Kindheit zwischen Unterwelt und gutbürgerlichem Leben
Was zu Hause passiert, bleibt zu Hause. Grundsätzlich. Das lernte Charly schon, da war er noch nicht einmal in der Schule. Klar wusste er von der abgesägten Schrotflinte unter dem Bett seiner Eltern und dem geladenen Revolver auf dem Nachttisch. Doch darüber wurde nicht gesprochen. Warum auch? Für den Jungen war das keine große Sache. Normalität in einer von Luden und Ganoven geprägten Kindheit. Und doch krasser Gegensatz zu dem gutbürgerlichen Leben in einer Jugendstilvilla in Blankenese. Charly Carstens sollte behütet aufwachsen. So behütet wie eben möglich – als Sohn einer Kiez-Größe. Sein Vater war „Dakota-Uwe“– in den 70er Jahren einer der Hauptdarsteller in St. Paulis Unterwelt.
Liebevoll, lustig, großzügig, fair und bärenstark. So beschreibt Charly, der eigentlich ebenfalls Uwe heißt, seinen Vater. Streng sei er nur bei Kleinigkeiten gewesen. Wenn Charly zu spät nach Hause kam oder den Rasen nicht wie versprochen gemäht hatte. Baute der Junge richtig Mist, gab es keinen Ärger. Fensterscheiben einwerfen, an Silvester Briefkästen in die Luft jagen – darüber konnte sein Vater herzlich lachen. Der Mann mit der bulligen Erscheinung. Der berüchtigt war als einer, der nicht lange fackelt. Die rechte Hand von Wilfried „Frieda“Schulz – dem ersten Paten von St. Pauli. Glücksspiel, Prostitution, Milieu-Machtkämpfe – Alltag für den Vater des kleinen Charly.
Dass bei ihm zu Hause irgendwas anders war, realisierte Charly bei Geburtstagsfeiern seiner Freunde. Wenn die Verwandtschaft rund um die Kaffeetafel saß und Torte futterte. Bei ihm kamen nicht Großeltern und Cousins, sondern Freunde seines Vaters. Milieu-Größen, die ihm mal ein Luftgewehr oder Handschellen schenkten. Mal einen Sack Pistazien oder schlicht dicke
Die größte Angst meines Vaters war, dass ich irgendwann selber auf dem Kiez landen könnte. Das kam für mich aber nie infrage. Für mich gelten andere Gesetze. Unsere Gesetze.
Charly Carstens
Als mein Vater im Gefängnis war, sollte ich allen erzählen, erseiaufKur.In der Zeit habe ich ihn kein einziges Mal gesehen.
Charly Carstens
Scheine. Dass er von seinen Eltern zum Geburtstag stets einen 500er und zu Weihnachten einen 1000-MarkSchein bekam – Normalität.
Der Junge wusste, dass sein Vater auf St. Pauli arbeitet. Doch als die Klassenlehrerin die Schüler aufforderte, den Beruf ihrer Eltern zu nennen, zuckte er nur die Schultern. Abends erklärte ihm sein Vater, er sei CasinoBesitzer. Was ja auch stimmte. Dass er die rechte Hand des Kiezpaten, an einem Bordell beteiligt und Geldeintreiber war, wurde nicht thematisiert. Für den Jungen auch nicht von Bedeutung. Er dachte immer: „Wenn dein Papa das macht, wird das schon richtig sein.“Selbst als einmal ein Waffenhändler sein Sortiment im Wohnzimmer ausbreitete und sein Vater „einkaufte“, reichte dem Jungen die Erklärung: „Ist dafür da, dass wir uns immer sicher fühlen.“
Die Waffen, das Verbotene, die Geheimnisse – Charly fand das als Kind spannend. „Ich fühlte mich selber wie ein kleiner Mafiosi. Für mich war mein Vater ein lustiger Gangster, der Leuten das Geld wegnimmt, denen es nicht schadet.“Doch was für den Jungen ein Spiel war, wurde in der ersten Klasse harte Realität. „Ich bin zur Schule getapert mit meinem kleinen Ranzen.“Ein Wagen direkt neben ihm. Die Beifahrertür flog auf. Ein Typ packte ihn. Versuchte den Jungen ins Auto zu zerren. Charly konnte sich losstrampeln, lief schreiend nach Hause. Die Gangster brausten davon. Die kommenden Wochen hatte der Junge permanent Personenschutz – von Bekannten seines Vaters. Irgendwann sagte „Dakota-Uwe“bloß, die Sache sei erledigt. Was auch immer er damit meinte – Charly war froh, das Haus wieder alleine verlassen zu dürfen.
Angst hatte der Junge nach der versuchten Entführung nicht. Er fühlte sich sicher. Sein Papa war für ihn „Bud Spencer“. Dessen Freunde nette „Onkel“. Er liebte es, wenn der Pate von St. Pauli abends vorbeikam. Wilfried Schulz fand es besonders lustig, sich durch den dunklen Garten zu schleichen, mit der Faust gegen die Terrassentür zu donnern und: „Aufmachen, Polizei!“zu brüllen.
„Mein Vater hat sich jedes Mal wahnsinnig erschrocken“, sagt Charly, der auch bei privaten Partys mittendrin war. Milieu-Größen fläzten sich auf Kissen am Boden, rauchten Opiumpfeifen und besprachen Geschäfte. An Silvester saß Charly einmal mit einem Freund seines Vaters auf der Terrasse und zerschoss mit einer scharfen Waffe die bunten Glühbirnen der Lichterkette, die in der acht Meter hohen Tanne vor dem Haus leuchteten. „Ich fand das als Neunjähriger irre lustig.“Sein Vater war wenig begeistert.
Seine größte Angst: Charly könne irgendwann selber auf dem Kiez landen. Als kleiner Junge war er häufig auf St. Pauli. Essen bei den Pateneltern, die ein Restaurant auf der Reeperbahn betrieben. Auf dem Weg dahin hielt seine Mutter ihm manchmal die Augen zu, damit er die Bilder nackter Frauen nicht sah. Für den Jungen eine faszinierende Welt. „Die Portiers begrüßten mich alle. Wildfremde Menschen steckten mir einen Zwanziger zu. Ich habe das genossen.“Als Jugendlicher war Schluss damit. Charly bekam von seinem Vater St. Pauli-Verbot. Einzige Ausnahme: Am 16. Geburtstag machte „DakotaUwe“mit seinem Sohn einen „Zug durch die Gemeinde“. Am Ende ging Charly beschämt nach Hause. Er hatte von Ritze-Wirt Hanne Kleine eine Dame seiner Wahl im „Palais d’Amour“geschenkt bekommen – sich aber nicht getraut. Ein halbes Jahr später wollte er seinen „Gutschein“einlösen. Hanne klatschte zweimal, rief „Parade“, die Mädels standen wie beim „Fahnenappell“und Charly sollte sich eine aussuchen. „Das war so un
fassbar peinlich“, sagt der Mann lachend. Er läuft rot an. Noch immer bekomme er Schweißausbrüche bei dem Gedanken daran.
Die Angst seines Vaters, er könne irgendwann in dessen Fußstapfen treten, war unbegründet. „Das kam für mich nie infrage.“Auch wenn er seinen Vater nicht verurteile für das, was er getan hat – heute distanziert sich Charly klar von den kriminellen Machenschaften. „Wenn man sich ins Milieu begibt, gibt es Spielregeln, eigene Gesetze. Das weiß jeder. Aber für mich gelten andere Gesetze.“Und die bekam „Dakota-Uwe“Anfang der 80er Jahre zu spüren. Er wurde zu knapp dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen Bestechung. Er wollte im Volksparkstadion Würstchenbuden eröffnen. Für die Konzession ließ er im „Landhaus Scherrer“Geld an einen Regierungsdirektor fließen.
18 Monate war der KiezBoss in Untersuchungshaft. In der Zeit musste Charly jedem erzählen: „Papa ist auf Kur.“Gesehen hat er seinen Vater kein einziges Mal. „Das wollte er nicht. Es war ihm furchtbar unangenehm.“Danach kam „Dakota-Uwe“frei – unter der Auflage, sich jeden Tag an der Wache zu melden. Anderthalb Jahre später musste er die Reststrafe absitzen. Für Charly Bilder, die er bis heute nicht vergessen kann. Er kam gerade mit einem Nachbarsjungen von der Schule. Überall Blaulicht. Streifenwagen. Schwer bewaffnete Polizisten. Charly wusste sofort, dass sie seinen Vater geholt haben. Er glaubt ihn noch auf der Rückbank eines Mercedes gesehen zu haben. Es war der einzige Moment, in dem er sich wünschte, sein Vater hätte einen anderen Beruf.
Nach dem Knast verabschiedete sich „Dakota-Uwe“vom Kiez. Er eröffnete das „Lütt Döns“am Bahnhof Othmarschen und erteilte den Milieu-Größen bis auf ein paar guten Freunden Lokalverbot. „Er hat einen richtigen Cut gemacht. Weggesperrt und von der Familie getrennt zu sein hat sehr an ihm genagt.“Doch der Kiez-Boss scheiterte an der Normalität. Er erlitt einen Herzinfarkt, der Schuldenberg drückte „und er zog sich immer weiter zurück.“Am 1. Juli 1989 nahm sich „Dakota-Uwe“mit einer Pistole in seinem Geländewagen das Leben.
Durch den Anruf seiner Mutter erfuhr Charly, dass ein Abschiedsbrief zu Hause liegt. „Einen Tag später rief die Kripo an.“Sein Vater war auf einem Feldweg gefunden worden. Charlys Welt stand still. „Danach war es ein großes Chaos. Berater, Anwälte. Am Ende haben wir das Erbe ausgeschlagen.“Und Charly führte das solide Erbe seines Vaters fort. Vor 23 Jahren übernahm er das „Lütt Döns“. Der gelernte Koch, der im „Landhaus Dill“und „Fischereihafen Restaurant“ausgebildet wurde, hat einen 21-jährigen Sohn, ist verheiratet und wohnt in Ottensen. „Unspektakulär, fast schon spießig“, sagt der Mann mit den tätowierten Armen lachend. Und ist froh darüber. Er ist glücklich, einfach nur ein normales Leben führen zu können.
Wer mehr über seine Kindheit auf St. Pauli erfahren möchte: Uwe „Charly“Carstens hat kürzlich gemeinsam mit dem Journalisten und Autor Harald Stutte das Buch „Der Kleine von Dakota-Uwe“veröffentlicht.