So groß ist die Not der Seeleute
HAFEN Depressionen und Suizidgedanken nehmen zu. Seelsorger und Sozialarbeiter haben derzeit viel zu tun
Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön – so heißt es in einem alten Volkslied. Doch die Realität sieht anders aus. Das Leben an Bord eines Schiffes hat heute nicht mehr viel mit Romantik zu tun. Corona hat die Situation noch verschärft. Depressionen und Suizidgedanken nehmen zu. Die Seelsorger und Sozialarbeiter im Hafen haben alle Hände voll zu tun. „Viele Seeleute, die wir an Bord der Schiffe betreuen, haben wegen der CoronaVorschriften in den weltweiten Häfen seit neun Monaten keinen Landgang mehr erlebt“, erzählt Sören Wichmann, Sozialarbeiter und Diakon beim Seemannsclub Duckdalben in Waltershof. Und selbst wenn es erlaubt ist, schieben viele Reedereien den Crews einen Riegel vor. Sie sind gefangen an Bord – ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Möglichkeit, ihre Familien zu kontaktieren.
Für Hafenärztin Dr. Clara Schlaich ist das ein „Skandal“: „Das ist ein klarer Bruch internationaler Konventionen. In unseren Einrichtungen der Seemannsmissionen erleben wir, dass die Seeleute häufig als Risiko für Krankheitsverschleppung gesehen werden und dass ihre Bedürfnisse keine Rolle spielen; Seeleute sind die stummen Opfer der Coronakrise“, so Schlaich, die auch Präsidentin der Deutschen Seemannsmission ist.
Durch die Isolation und fehlenden Kontaktmöglichkeiten kommt es vor, dass Männer die Geburt ihres Kindes fern in einem anderen Erdteil verpassen. Sie bekommen nicht mit, dass ihre Eltern sterben. Viele Ehefrauen fühlen sich vernachlässigt und alleingelassen. Häufig kommt es zu Trennungen. „Wir führen Gespräche mit den Seeleuten, um ihnen zu helfen, das zu verarbeiten, was sie bedrückt“, sagt Sören Wichmann. Diese Gespräche finden auf der Gangway statt, weiter dürfen die Duckdalben-Leute nicht aufs Schiff. Oder sie finden im Seemannsclub selbst statt – der Besuch dort ist neben dem Aufsuchen eines Arztes oder einer Apotheke die einzige Möglichkeit für die Matrosen, in Hamburg von Bord zu gehen. Woanders ist nicht einmal das möglich. Touristische Aktivitäten sind überall tabu.
Für die Sozialarbeiter des Duckdalben sind es oft bewegende Szenen. „Wir erleben hier täglich hochdramatische Geschichten“, sagt Sören Wichmann. Wie die des Filipinos, der nach einem Schlaganfall ein Jahr lang in Hamburg gestrandet war und nur dank einer Spendenaktion des Duckdalben zurück zu seiner Familie geflogen werden konnte. Oder die des Mannes, dessen Tochter auf den Philippinen dringend eine lebensrettende OP brauchte. „Ich hab’ ihm geholfen, sein letztes Geld nach Hause zu überweisen. Es reichte nicht“, erinnert sich Wichmann. Der Mann habe so viel geweint. Mit einem Zuschuss aus dem Notfallfonds des Duckdalben konnte der Familie geholfen werden.
Wissenschaftler haben schon vor Corona auf die psychisch belastende Arbeitssituation an Bord der Schiffe hingewiesen. „Seeleute leben in einem geschlossenen sozialen System an Bord, es gibt keinen Unterschied von Arbeits- und Wohnort, die soziale Kommunikation beschränkt sich auf die Crew in einem hierarchischen System; gerade in Stresssituationen brauchen Seeleute den Ausgleich durch Kommunikationspartner außerhalb des Systems Schiff“, schrieben der Schifffahrtspsychologe Hans-Joa