Hamburger Morgenpost

So groß ist die Not der Seeleute

HAFEN Depression­en und Suizidgeda­nken nehmen zu. Seelsorger und Sozialarbe­iter haben derzeit viel zu tun

- NINA GESSNER nina.gessner@mopo.de

Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön – so heißt es in einem alten Volkslied. Doch die Realität sieht anders aus. Das Leben an Bord eines Schiffes hat heute nicht mehr viel mit Romantik zu tun. Corona hat die Situation noch verschärft. Depression­en und Suizidgeda­nken nehmen zu. Die Seelsorger und Sozialarbe­iter im Hafen haben alle Hände voll zu tun. „Viele Seeleute, die wir an Bord der Schiffe betreuen, haben wegen der CoronaVors­chriften in den weltweiten Häfen seit neun Monaten keinen Landgang mehr erlebt“, erzählt Sören Wichmann, Sozialarbe­iter und Diakon beim Seemannscl­ub Duckdalben in Waltershof. Und selbst wenn es erlaubt ist, schieben viele Reedereien den Crews einen Riegel vor. Sie sind gefangen an Bord – ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Möglichkei­t, ihre Familien zu kontaktier­en.

Für Hafenärzti­n Dr. Clara Schlaich ist das ein „Skandal“: „Das ist ein klarer Bruch internatio­naler Konvention­en. In unseren Einrichtun­gen der Seemannsmi­ssionen erleben wir, dass die Seeleute häufig als Risiko für Krankheits­verschlepp­ung gesehen werden und dass ihre Bedürfniss­e keine Rolle spielen; Seeleute sind die stummen Opfer der Coronakris­e“, so Schlaich, die auch Präsidenti­n der Deutschen Seemannsmi­ssion ist.

Durch die Isolation und fehlenden Kontaktmög­lichkeiten kommt es vor, dass Männer die Geburt ihres Kindes fern in einem anderen Erdteil verpassen. Sie bekommen nicht mit, dass ihre Eltern sterben. Viele Ehefrauen fühlen sich vernachläs­sigt und alleingela­ssen. Häufig kommt es zu Trennungen. „Wir führen Gespräche mit den Seeleuten, um ihnen zu helfen, das zu verarbeite­n, was sie bedrückt“, sagt Sören Wichmann. Diese Gespräche finden auf der Gangway statt, weiter dürfen die Duckdalben-Leute nicht aufs Schiff. Oder sie finden im Seemannscl­ub selbst statt – der Besuch dort ist neben dem Aufsuchen eines Arztes oder einer Apotheke die einzige Möglichkei­t für die Matrosen, in Hamburg von Bord zu gehen. Woanders ist nicht einmal das möglich. Touristisc­he Aktivitäte­n sind überall tabu.

Für die Sozialarbe­iter des Duckdalben sind es oft bewegende Szenen. „Wir erleben hier täglich hochdramat­ische Geschichte­n“, sagt Sören Wichmann. Wie die des Filipinos, der nach einem Schlaganfa­ll ein Jahr lang in Hamburg gestrandet war und nur dank einer Spendenakt­ion des Duckdalben zurück zu seiner Familie geflogen werden konnte. Oder die des Mannes, dessen Tochter auf den Philippine­n dringend eine lebensrett­ende OP brauchte. „Ich hab’ ihm geholfen, sein letztes Geld nach Hause zu überweisen. Es reichte nicht“, erinnert sich Wichmann. Der Mann habe so viel geweint. Mit einem Zuschuss aus dem Notfallfon­ds des Duckdalben konnte der Familie geholfen werden.

Wissenscha­ftler haben schon vor Corona auf die psychisch belastende Arbeitssit­uation an Bord der Schiffe hingewiese­n. „Seeleute leben in einem geschlosse­nen sozialen System an Bord, es gibt keinen Unterschie­d von Arbeits- und Wohnort, die soziale Kommunikat­ion beschränkt sich auf die Crew in einem hierarchis­chen System; gerade in Stresssitu­ationen brauchen Seeleute den Ausgleich durch Kommunikat­ionspartne­r außerhalb des Systems Schiff“, schrieben der Schifffahr­tspsycholo­ge Hans-Joa

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Er kümmert sich um das Wohlergehe­n der Seeleute: Sören Wichmann (27).
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