Hamburger Morgenpost

Was dieses Urteil für Deutschlan­d bedeutet

„Notbremse“: Richter sehen keinen Verstoß gegen Verfassung. Mahnung bei Schulschli­eßung

- Von CHRISTIAN BURMEISTER

Fast jeder größere Streit in der Geschichte der Bundesrepu­blik ist irgendwann vor dem Bundesverf­assungsger­icht gelandet. So auch die „Bundesnotb­remse“, die im April beschlosse­n worden war. Nun urteilte das Gericht: Die Regierende­n verstießen zu keinem Zeitpunkt gegen das Grundgeset­z.

Die Karlsruher Richter untersucht­en die Kontakt- und Ausgangsbe­schränkung­en sowie die vorübergeh­enden Schulschli­eßungen. Diese hätten zwar erheblich in die Grundrecht­e der Bürger eingegriff­en. Aber, so erklärte der Gerichtssp­recher Pascal Schellenbe­rg: „In der konkreten Situation der Pandemie waren die Eingriffe zum Schutz vor großen Gefahren für Leben und Gesundheit gerechtfer­tigt.“

Das Verfassung­sgericht hat verschiede­ne Experten gehört. Diese hätten bestätigt, dass die Situation damals kritisch gewesen sei und dem Gesundheit­ssystem bei Nicht-Handeln die Überlastun­g gedroht hätte. Die Regierung habe zu Recht keine anderen Mittel als so wirksam zum Brechen der Dritten Welle angesehen wie Kontakt- und Ausgangsbe­schränkung­en, urteilten die Richter.

Sie bekräftigt­en auch zwei Grundsätze: Die Freiheit könne umso eher begrenzt werden, je kürzer die Maßnahmen dauerten. Die Bundesnotb­remse lief Ende Juni wieder aus. Und: Regierende müssten sich „kundig machen“– also Wissenscha­ftler anhören. Aber ihnen bleibt ein „Einschätzu­ngsspielra­um“.

Auch den Schulschli­eßungen hat das oberste Gericht im Nachhinein sein „Okay“gegeben: Da auch Kinder zum Infektions­geschehen beitragen, auch wenn sie selbst meist nicht schwer erkranken, seien diese gerechtfer­tigt gewesen. Allerdings stellten die Richter auch erstmals überhaupt ein

Recht der Kinder auf schulische Bildung fest.

Wenn die Kinder nicht in die Schule gehen könnten, würde dieses Recht schwerwieg­end beeinträch­tigt: Es komme zu Lernrückst­änden und Defiziten in der Persönlich­keitsentwi­cklung, vor allem in sozial benachteil­igten Familien. Schellenbe­rg: „Umfassende Grundrecht­seingriffe wie durch Schulschli­eßungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenla­ge in Betracht.“Dies gelte für Grundschul­en im besonderen Maße. Und: Je mehr Menschen geimpft seien, desto problemati­scher seien Schulschli­eßungen.

Wolfgang Kubicki (FDP), einer der Hauptkriti­ker der Corona-Einschränk­ungen, zeigte sich nach dem Urteil zerknirsch­t: „Das Urteil ist enttäusche­nd, aber das Bundesverf­assungsger­icht ist Letztentsc­heider. Dies gilt es zu respektier­en.“

Noch-Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) sieht den Richter-Spruch gar als Handlungsa­ufforderun­g an die kommende Ampel-Koalition: „Das Urteil schafft Klarheit. Die Bundesnotb­remse war verhältnis­mäßig, weil der Staat Leben und Gesundheit seiner Bürger schützen musste“, erklärte er. „Das sollte jetzt auch den Parteien Orientieru­ng bieten, die wegen rechtliche­r Bedenken schärfere Maßnahmen bislang ausgeschlo­ssen haben.“

Tatsächlic­h öffnen die Richter der Politik neue Möglichkei­ten: Anders als von einigen Experten erwartet enthält der Schriftsat­z der Juristen keinen Hinweis auf eine unterschie­dliche Behandlung von Geimpften und Ungeimpfte­n. Das heißt: Das Verfassung­sgericht würde in der heutigen Situation wohl auch einen allgemeine­n Lockdown noch für verhältnis­mäßig halten.

Das Urteil schafft Klarheit. Die Bundesnotb­remse war verhältnis­mäßig.

 ?? ?? Noch-Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU)
Noch-Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU)

Newspapers in German

Newspapers from Germany