Darum wird um diese Stadt so erbittert gekämpft
OSTUKRAINE Putin will Sjewjerodonezk im Donbass aus mehreren Gründen erobern
SJEWJERODONEZK – Die Bilder und Berichte gleichen sich: Ähnlich erbittert wie um Mariupol wird nun um Sjewjerodonezk gekämpft. Der Gouverneur hält die Verteidigung zwar für eine „Mission Impossible“, will aber nicht aufgeben. Sjewjerodonezk ist zu wichtig – in vielerlei Hinsicht.
„Es ist unmöglich, den Beschuss zu zählen“: Seit Tagen wird die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk von Russlands Streitkräften belagert. Die Lage dort sei die schlimmste im ganzen Land, man werde „rund um die Uhr bombardiert“, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, jüngst. Und dabei sieht es nicht gut aus für die Ukrainer: Sjewjerodonezk ist bereits fast vollständig von besetztem Gebiet, also Feindesland, umschlossen. Nachschub und Versorgung kommen nur noch schwer in die Stadt. Der Gegner habe zudem eine zehnfache Feuerüberlegenheit, sagte Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj gestern. „Jeder Meter der ukrainischen Erde ist dort mit Blut durchtränkt – doch nicht nur mit unserem, sondern auch mit dem der Besatzer.“Samstag noch kontrollierten die Ukrainer laut eigenen Angaben rund ein Drittel der Stadt. Gestern dann musste Kiew den Verlust des Zentrums von Sjewjerodonezk einräumen. Damit sind nun rund 90 Prozent des Stadtgebiets in russischer und prorussischer Hand. Hajdaj hatte bereits befürchtet, die Verteidigung werde eine „Mission Impossible“. Warum aber wird um die Stadt so erbittert gekämpft? Sjewjerodonezk gilt als eine Keimzelle des prorussischen Separatismus. Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin hat eine Eroberung daher symbolische Bedeutung – genau wie für die Ukraine die Verteidigung. Vor knapp 20 Jahren unternahm man in Sjewjerodonezk erstmals den Versuch, die Ukraine zu spalten: Ende 2004 trat dort der „Allukrainische Kongress der Abgeordneten aller Ebenen“zusammen. Statt „allukrainisch“war die Zusammenkunft allerdings von der prorussischen „Partei der Regionen“dominiert.
Damals nahm in Kiew die „Orange Revolution“Fahrt auf, die die Ukraine weg von Russland und näher an Europa führen wollte. Im Donbass, nahe der russischen Grenze, hatten viele Menschen Angst vor dieser Entwicklung. Die „Partei der Regionen“verstand sich als deren Vertreterin und drohte mit der Ausrufung der Autonomie. Letztlich blieb es jedoch bei bloßen Drohungen. Sjewjerodonezk ist auch wichtiger Industriestandort:
In der 100.000-Einwohner-Stadt befindet sich unter anderem das größte Chemiewerk des Landes, betrieben von Asot, einem Düngemittelhersteller. Er versorgt weite Teile der Welt, darunter Europa. Die Zerstörung der Stadt bedeutet, dass ein wichtiger Industriezweig ausfällt – wodurch das ganze Land geschwächt wird. Tatsächlich ist das Gelände des Asot-Werks fast als einziges Gebiet in Sjewjerodonezk bislang noch in ukrainischer Hand. Dutzende Zivilisten, die die Stadt nicht verlassen wollten oder konnten, sind dorthin geflüchtet und verschanzen sich in unterirdischen Bunkern. Ähnlich lief das bereits in Mariupol ab: Als die Stadt längst in Schutt und Asche lag, hielten ukrainische Kämpfer das Stahlwerk Azovstal als letzte Bastion der Verteidigung.
Auch dort hatten sich Hunderte Zivilisten vor den Angreifern versteckt. Dass um Sjewjerodonezk so heftig gekämpft wird, hat auch geografische Gründe. Die Stadt ist neben dem benachbarten Lyssytschansk die letzte große in der Region Luhansk, die noch nicht unter (pro-)russischer Kontrolle steht. Fallen beide, ist Putin seinem Ziel der Komplett-Eroberung des Donbass einen großen Schritt näher – und Beobachter fürchten, dass er die besetzten Gebiete nicht mehr zurückgeben wird. Nicht nur Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj glaubt deshalb, dass sich in Sjewjerodonezk „in erheblichem Maße“das Schicksal des Donbass entscheiden wird.