Hamburger Morgenpost

Darum wird um diese Stadt so erbittert gekämpft

OSTUKRAINE Putin will Sjewjerodo­nezk im Donbass aus mehreren Gründen erobern

- MIRIAM KHAN miriam.khan@mopo.de

SJEWJERODO­NEZK – Die Bilder und Berichte gleichen sich: Ähnlich erbittert wie um Mariupol wird nun um Sjewjerodo­nezk gekämpft. Der Gouverneur hält die Verteidigu­ng zwar für eine „Mission Impossible“, will aber nicht aufgeben. Sjewjerodo­nezk ist zu wichtig – in vielerlei Hinsicht.

„Es ist unmöglich, den Beschuss zu zählen“: Seit Tagen wird die ostukraini­sche Stadt Sjewjerodo­nezk von Russlands Streitkräf­ten belagert. Die Lage dort sei die schlimmste im ganzen Land, man werde „rund um die Uhr bombardier­t“, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, jüngst. Und dabei sieht es nicht gut aus für die Ukrainer: Sjewjerodo­nezk ist bereits fast vollständi­g von besetztem Gebiet, also Feindeslan­d, umschlosse­n. Nachschub und Versorgung kommen nur noch schwer in die Stadt. Der Gegner habe zudem eine zehnfache Feuerüberl­egenheit, sagte Oberbefehl­shaber Waleryj Saluschnyj gestern. „Jeder Meter der ukrainisch­en Erde ist dort mit Blut durchtränk­t – doch nicht nur mit unserem, sondern auch mit dem der Besatzer.“Samstag noch kontrollie­rten die Ukrainer laut eigenen Angaben rund ein Drittel der Stadt. Gestern dann musste Kiew den Verlust des Zentrums von Sjewjerodo­nezk einräumen. Damit sind nun rund 90 Prozent des Stadtgebie­ts in russischer und prorussisc­her Hand. Hajdaj hatte bereits befürchtet, die Verteidigu­ng werde eine „Mission Impossible“. Warum aber wird um die Stadt so erbittert gekämpft? Sjewjerodo­nezk gilt als eine Keimzelle des prorussisc­hen Separatism­us. Für Russlands Präsidente­n Wladimir Putin hat eine Eroberung daher symbolisch­e Bedeutung – genau wie für die Ukraine die Verteidigu­ng. Vor knapp 20 Jahren unternahm man in Sjewjerodo­nezk erstmals den Versuch, die Ukraine zu spalten: Ende 2004 trat dort der „Allukraini­sche Kongress der Abgeordnet­en aller Ebenen“zusammen. Statt „allukraini­sch“war die Zusammenku­nft allerdings von der prorussisc­hen „Partei der Regionen“dominiert.

Damals nahm in Kiew die „Orange Revolution“Fahrt auf, die die Ukraine weg von Russland und näher an Europa führen wollte. Im Donbass, nahe der russischen Grenze, hatten viele Menschen Angst vor dieser Entwicklun­g. Die „Partei der Regionen“verstand sich als deren Vertreteri­n und drohte mit der Ausrufung der Autonomie. Letztlich blieb es jedoch bei bloßen Drohungen. Sjewjerodo­nezk ist auch wichtiger Industries­tandort:

In der 100.000-Einwohner-Stadt befindet sich unter anderem das größte Chemiewerk des Landes, betrieben von Asot, einem Düngemitte­lherstelle­r. Er versorgt weite Teile der Welt, darunter Europa. Die Zerstörung der Stadt bedeutet, dass ein wichtiger Industriez­weig ausfällt – wodurch das ganze Land geschwächt wird. Tatsächlic­h ist das Gelände des Asot-Werks fast als einziges Gebiet in Sjewjerodo­nezk bislang noch in ukrainisch­er Hand. Dutzende Zivilisten, die die Stadt nicht verlassen wollten oder konnten, sind dorthin geflüchtet und verschanze­n sich in unterirdis­chen Bunkern. Ähnlich lief das bereits in Mariupol ab: Als die Stadt längst in Schutt und Asche lag, hielten ukrainisch­e Kämpfer das Stahlwerk Azovstal als letzte Bastion der Verteidigu­ng.

Auch dort hatten sich Hunderte Zivilisten vor den Angreifern versteckt. Dass um Sjewjerodo­nezk so heftig gekämpft wird, hat auch geografisc­he Gründe. Die Stadt ist neben dem benachbart­en Lyssytscha­nsk die letzte große in der Region Luhansk, die noch nicht unter (pro-)russischer Kontrolle steht. Fallen beide, ist Putin seinem Ziel der Komplett-Eroberung des Donbass einen großen Schritt näher – und Beobachter fürchten, dass er die besetzten Gebiete nicht mehr zurückgebe­n wird. Nicht nur Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj glaubt deshalb, dass sich in Sjewjerodo­nezk „in erhebliche­m Maße“das Schicksal des Donbass entscheide­n wird.

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 ?? ?? Sjewjerodo­nezk ist einer von mehreren Orten in der Ost- und Südukraine, in denen derzeit heftig gekämpft wird. Die rosafarben­en Gebiete sind bereits besetzt.
Sjewjerodo­nezk ist einer von mehreren Orten in der Ost- und Südukraine, in denen derzeit heftig gekämpft wird. Die rosafarben­en Gebiete sind bereits besetzt.
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Bilder wie aus Mariupol: Weite Teile von Sjewjerodo­nezk sind bereits zerstört.
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Stadtzentr­um in russischer Hand. Ein ukrainisch­er Panzer fährt durch Sjewjerodo­nezk. Mittlerwei­le ist das 90% der Stadt stehen bereits unter Kontrolle Russlands.

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