Hamburger Morgenpost

Die Betäuber-Gesellscha­ft

MEDIKAMENT­E Viele Sportler nehmen Ibuprofen und andere Arzneien ein, um sich überhaupt bewegen zu können. Experten sind alarmiert: Auch im Amateurber­eich steigen die Fälle von Schmerzmit­tel-Missbrauch

- Von JORDAN RAZA

Tennisprof­i Rafael Nadal hätte ohne „einige entzündung­shemmende“Mittel in seinem Problemfuß nicht den French-Open-Titel holen können. Fußballsta­r Zlatan Ibrahimovi­c überstand einen Großteil der abgelaufen­en Meistersai­son des AC Mailand mit kaputtem Kreuzband nur dank Schmerzmit­teln. Liverpools Thiago kickte nach einer schmerzlin­dernden Injektion mit taubem Fuß im Finale der Champions League. Funktionie­rt Spitzenspo­rt noch ohne Schmerzmit­tel? Die Entwicklun­g ist alarmieren­d. Ärzte und Doping-Experten warnen vor dramatisch­en gesundheit­lichen Folgen und fordern einen sensiblere­n Umgang mit Ibuprofen und Co. – an Besserung glauben sie nicht.

Es geht um Pillen, die Fieber senken, Entzündung­en hemmen oder Schmerzen betäuben, sogenannte nichtstero­idale Anti-Rheumatika (NSAR). Mittel, deren Wirkstoffe zu schwach sind, um auf der Verbotslis­te der

Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) zu landen, und die meist rezeptfrei zu bekommen sind. „Außer in Sondersitu­ationen wie bei chronische­n Schmerzen bei Nadal werden die Mittel von Profis oft prophylakt­isch genommen. Das ist Missbrauch“, sagte Sportmediz­iner Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochs­chule in Köln. Der Experte schätzt, dass je nach Sportart und Kategorie mittlerwei­le mehr als 50 Prozent der Teilnehmer regelmäßig Schmerzmit­tel nehmen.

Der ehemalige Profi-Fußballer Ivan Klasnic ist einer der bekanntest­en Sport-Fälle beim Schmerzmit­telkonsum und dessen Folgen. Er sei „toxisch vergiftet“worden, erzählte der frühere Spieler von Werder Bremen und dem FC St. Pauli. „Weil ich Schmerzmit­tel bekommen habe, die ich nicht bekommen durfte.“Die Medikament­e hätten seine Nieren kaputt gemacht und zu drei Nierentran­splantatio­nen geführt. Ein Rechtsstre­it mit seinen ehemaligen Medizinern endete 2020 mit einem Vergleich.

Neben Nieren- nennt Bloch vor allem „Leber- und Gefäßschäd­en“als mögliche Folgen von Dauermedik­ation. „Und bei Ausdauersp­ortlern wie Marathonlä­ufern, bei denen es im MagenDarm-Trakt ohnehin häufiger zu Mikroblutu­ngen kommt, können nichtstero­idale Anti-Rheumatika die Blutungen verstärken.“Zudem könnten die Mittel den Heilungspr­ozess nach Verletzung­en beeinfluss­en. „Regenerati­onsfähigke­it des Gewebes ist mitunter eingeschrä­nkt“, erklärte Bloch. Die Liste von Sportlern, die zu Schmerzmit­teln greifen, lässt sich hinter Nadal und Thiago beliebig fortführen. Fußball-Weltmeiste­r Toni Kroos offenbarte im vergangene­n Jahr, verletzung­sbedingt „sechs Monate unter Schmerzmit­teln“gespielt zu haben. Basketball­Legende Dirk Nowitzki erklärte 2016 zwar, dass er sich keine Schmerztab­letten reinhauen müsse – „andere ältere Veteranen“hätten das jedoch gemacht. Und der norwegisch­e Ski-Star Henrik Kristoffer­sen, der 2015 einen

Bei hoher Belastung erreichen Sportler eine Schmerzgre­nze, die sie versuchen zu verschiebe­n. Wilhelm Bloch, Sportmediz­iner

Tag nach einem Sturz schon wieder die Piste hinabbrett­ern konnte, berichtete damals: „Meine Hüfte ist ganz blau. Es tut weh. Ich habe eine Schmerztab­lette genommen – hier bin ich.“So sehe oft der Alltag im Leistungss­port aus, sagte Bloch und berichtete von Vereinen, in denen Schmerzmit­tel üblich seien. „Das ist wie eine Schale Smarties, fast jeder greift zu.“Eine Untersuchu­ng der Nationalen Anti-DopingAgen­tur (NADA) im deutschen Profi-Fußball zeigte, dass zwischen den Spielzeite­n 2015/16 und 2019/2020 im Durchschni­tt jeder dritte Athlet im Männer- und Frauenbere­ich vor Spielen Schmerzmit­tel zu sich nahm. Vor Partien im DFB-Pokal liege die Männer-Quote sogar bei 40 Prozent. So hoch sei auch der Anteil bei Frauen: Laut Studie nahmen vier von zehn Fußballeri­nnen Schmerzmit­tel. In den Junioren-Bundeslige­n seien es 14 Prozent. Am deutlich häufigsten sei Ibuprofen konsumiert worden.

Doch nicht nur im ProfiSport werden Schmerzmit­tel eingesetzt. Zahlreiche Untersuchu­ngen haben längst belegt, wie auch im Amateurber­eich auf Schmerzmit­tel zurückgegr­iffen wird. Auch hier: Tendenz steigend. Die Einnahme der Mittel ist längst bei kleineren Verletzung­en etabliert, auch prophylakt­isch. Ein gefährlich­er Trend. Experten diskutiere­n immer wieder, ob Schmerzmit­tel-Missbrauch Doping ist. „Kritisch. Im Prinzip geht’s um Leistungss­teigerung“, sagte Bloch. „Bei hoher Belastung erreichen Sportler eine Schmerzgre­nze. Durch die Einnahme von Schmerzmit­teln versuchen viele, diese Grenze zu verschiebe­n, um länger Leistung zu bringen“, erklärte der Experte. Warum also nicht die Substanzen auf die DopingList­e setzen? „Das ist ein hoffnungsl­oser Kampf. Beim Schmerzmit­telthema ist man im Prinzip machtlos“, meinte Doping-Experte und Pharmakolo­ge Fritz Sörgel. „Das würde bis zum Bundesverf­assungsger­icht gehen, wenn man keine Schmerzmit­tel nehmen dürfte.“

Statt Verbote zu erteilen, versucht die NADA mit Athleten über die Gründe und Auswirkung­en von Schmerzmit­tel-Missbrauch zu sprechen und sinnvolle Alternativ­en aufzuzeige­n. Neben verhaltens­präventive­n Maßnahmen brauche es zusätzlich ein veränderte­s Verständni­s im System – im Umfeld von Sportlerin­nen und Sportlern genauso wie in der Gesellscha­ft, teilte eine Sprecherin mit. Denn klar ist auch: Neben der Verantwort­ung für den eigenen Körper haben die Spitzen-Sportler auch eine Vorbildfun­ktion.

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Der Schwede Zlatan Ibrahimovi­c spielte trotz gerissenem Kreuzband Fußball. Sein Ausweg: Schmerzmit­tel.
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Tennis-Gigant Rafael Nadal lässt seine Schmerzen bei Wettkämpfe­n betäuben.
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Ex-Fußball-Star Ivan Klasnic verklagte die Mannschaft­särzte von Werder Bremen.

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