Wilde Chaos gegen das Artensterben
GRÜNPFLEGE Hamburger Professor lässt das Unkraut wuchern – und bekommt dafür tierischen Besuch
Blumen in Reih und Glied, farblich abgestimmt und bloß kein Unkraut – so sah es lange auf Hamburgs Balkonen oder in den Gärten der Einfamilienhäuser aus. Doch dieses Ideal beginnt sich zu wandeln. Immer mehr Menschen lassen der Natur ihren Lauf – in der Hoffnung, einen Beitrag im Kampf gegen das Insektensterben zu leisten.
Wenn Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität, aus dem Fenster in seinen Garten am Hamburger Stadtrand blickt, dann sieht er Wildnis wuchern. Gänse blümchen, Hirtentäschel. Selbst der Giersch, Feind aller Hobbygärtner, wird nicht gestoppt.
„Bei uns wächst, was nun mal wächst“, sagt Glaubrecht. „Wir überlassen den Garten sich selbst.“Damit ist der Wissenschaftler Vertreter eines Trends. Tausende sind dem Aufruf der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft zum „No Mow May“gefolgt und haben ihren Rasen im Mai nicht gemäht, damit die Bienen und Hummeln genug Nahrung finden. Bio-Versandgärtnereien haben reißenden Absatz. Und im Internet finden sich immer mehr Rezepte, die dem Giersch im Salat, Pesto oder als Quiche neuen, kulinarischen Wert bescheren. Die Geranien-Ära vor dem Aus? Stadtbewohner, die ihre Gärten oder Balkone über Jahrzehnte zu Kunstprodukten machten, besinnen sich wieder auf die Natur. Und das ist gut so.
„In Deutschland ist die Biomasse an Insekten in den vergangenen 30 Jahren um 80 Prozent zurückgegangen“, berichtet der Professor. Nur wenige erinnerten sich noch daran, dass man früher ständig die Windschutzscheibe des Autos sauber machen musste, weil so viele Insekten daran kleben blieben. Heute kann davon keine Rede mehr sein, weil zu wenig Fliegen in der Luft sind. Folge: Auch die Vogelwelt, die sich von Insekten ernährt, hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten halbiert. Glaubrecht weiß, dass die größte Schuld für das Artensterben bei denjenigen liegt, die die industrielle Landwirtschaft mit Monokulturen und Pestizid-Einsatz betreiben, sowie bei denjenigen, die den brasilianischen Regenwald roden. Nur wenn dieser „Kriegszug gegen die Natur“, wie er es nennt, gestoppt würde, könne das Artensterben aufgehalten werden. Dennoch könnten Bürger mit Wildblu
Weniger Arbeit, mehr Natur
menwiesen im Garten, mit begrünten Dächern, mit Vogeltränken und Insektenhotels einen kleinen Beitrag leisten.
„Wichtig ist, so zu pflanzen, dass es das ganze Jahr Blüten gibt“, so Glaubrecht. Dabei lieber Rhododendren setzen als Rosen, weil bei ihnen Bienen nicht gut durch die Blätter an die Staubgefäße kommen. Der BUND empfiehlt, einfach gestaltete, ungefüllte Blüten zu wählen wie Gewürzblüten, Fingerhut, Mohn oder Storchenschnabel. Pflanzen also, die viel Nektar und Pollen haben. Glaubrecht empfiehlt auch die Anpflanzung von Hecken.
Denn sie sind ein wichtiger Nistplatz für Vögel. Genauso wie alte Bäume, die bloß nicht aus Angst vor dem nächsten Sturm gefällt und durch eine Jungpflanze ersetzt werden sollten. Es dauert viele Jahre, bis der Nachwuchs die biologische Funktion seines Vorgängers erreicht. Auch Nacktschnecken gegenüber fordert Glaubrecht Toleranz. „Schnecken sind der zweitgrößte Tierstamm nach den Insekten und Teil der Biodiversität.“Sie hätten als Aasfresser und Kompostierer eine wichtige Aufgabe in der Natur. Im Übrigen könne man sich den Kampf gegen sie sparen. „Man wird sie sowieso nicht los.“
Ein Dorn im Auge sind dem Professor vor allem moderne Mähroboter. „Sie halten nicht nur den Rasen kurz, sondern häckseln alles kurz und klein, was da so kreucht und fleucht.“Für Glaubrecht sind Mähroboter „absoluter Unfug“, da sie sowohl die Pflanzenvielfalt als auch die der Insekten und Vögel zerstört.
„Natur ist nicht ordentlich. Wir müssen Unordnung zulassen“, sagt Glaubrecht. Bei ihm zu Hause macht sich das schon bezahlt. Der Professor hat 37 verschiedene Wirbeltierarten in seinem Garten gezählt. „Manchmal steht morgens ein Reh auf der Wiese“, erzählt er. Aber auch Mäuse, Marder und diverse Vogelarten gibt’s hier. Und darüber freut sich der Professor mindestens so sehr wie seine Kinder.