Hamburger Morgenpost

„Wir haben so viele Menschen, die auf der Straße sterben“

„HINZ & KUNZT“Stephan Karrenbaue­r (60) zieht nach 30 Jahren bei dem Straßenmag­azin Bilanz

- Das Interview führte STEPHANIE LAMPRECHT

Er war Hamburgs bekanntest­er Sozialarbe­iter: 30 Jahre hat Stephan Karrenbaue­r (60) sich beim Straßenmag­azin „Hinz & Kunzt“für Obdachlose eingesetzt, sorgte dafür, dass die Menschen, die auf Hamburgs Straßen leben, von der Politik (und den Hamburgern) gesehen werden. Jetzt ist er in den Ruhestand gegangen. Die MOPO sprach mit ihm über sein Bewerbungs­gespräch, eine peinliche Situation in der U-Bahn und darüber, was seine erste Amtshandlu­ng als Bürgermeis­ter wäre.

MOPO: Der erste Tag im Ruhestand, was machen Sie da, Herr Karrenbaue­r?

Stephan Karrenbaue­r: Ich packe gerade die ganzen Geschenke aus und habe einen Kloß im Hals. Das war eine so tolle Verabschie­dung für mich und einen Kollegen. Was Hinz & Künztler alles können! Einer hat Saxofon gespielt, der Sohn eines Verkäufers hat klassische Gitarre gespielt, es waren sehr berührende Momente.

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Arbeitstag?

Ich erinnere mich sogar noch an das Bewerbungs­gespräch: Ich dachte, was ist das für ein irrer Verein! Die haben alles, was ich im Studium gelernt hatte, über Bord geworfen. Bei denen führten Obdachlose das Kassensyst­em und auch Drogenabhä­ngige verkauften Zeitungen, und zwar ohne dass man versuchte, sie von der Sucht wegzubring­en. Ich kam ja von einer Drogenbera­tungsstell­e. Aber plötzlich hörte ich Drogenabhä­ngige darüber reden, ob die Sonne scheint und es ein guter Verkaufsta­g wird – die hatten ganz neue Prioritäte­n. Und dann kam ein Drogenabhä­ngiger zu mir und sagte: Ich bin seit über einem Jahr nicht mehr straffälli­g geworden, weil ich die Zeitung verkaufe – und ich dachte: Ja, da kann er stolz drauf sein. Es ist nicht immer der richtige Weg, die Leute zu bedrängen, dass sie um jeden Preis und sofort ihre Sucht aufgeben müssen. Von da an war ich ein überzeugte­r Hinz & Künztler – bis zum letzten Tag.

Was hat sich in den vergangene­n 30 Jahren verbessert für die Obdachlose­n?

Durch das Straßenmag­azin wissen die meisten Hamburger, dass Obdachlosi­gkeit keine Entscheidu­ng freiheitsl­iebender Menschen ist, sondern dass hinter jedem Gestrandet­en ein Schicksal steht. Und auch, dass man selbst nie weiß, ob man selbst einmal in eine Depression gerät und alles verliert. Diese Aufmerksam­keit zu schaffen, das ist uns gelungen. Was uns nicht gelungen ist, ist jedem Wohnungslo­sen ein Zuhause zu bieten. Daran dürfen wir uns nicht gewöhnen.

Hat die Pandemie das Thema in den Hintergrun­d gedrängt?

Eher im Gegenteil: Die Stadt in den Lockdowns war leer bis auf die Obdachlose­n, die ganz neu in den Fokus rückten. Wir haben viele Spenden bekommen, um Obdachlose in Hotels unterzubri­ngen. Zusammen mit Sozialarbe­itern von Caritas und Diakonie haben wir die Menschen auf der Straße angesproch­en und alle sind mitgekomme­n. Wir hatten zeitweise 170 Menschen untergebra­cht, teilweise schwerst krank, und es ist so gut wie nichts passiert, darum haben die Hoteliers auch beim zweiten Mal gerne mitgemacht.

Sind heute andere Gruppen obdachlos als früher?

Als ich anfing, waren viele Menschen aus der ehemaligen DDR hier gestrandet. Später kamen durch die EUErweiter­ung Menschen als Arbeitsmig­ranten aus anderen Ländern, die hier nicht Fuß fassen konnten. Das ist eine Gruppe, mit der man ganz anders arbeiten muss. Die wohnen monatelang in ihren Autos, wissen nichts über Rechte und Pflichten von Arbeitnehm­ern. Wir haben eine rumänische Sozialarbe­iterin eingestell­t, haben Sprachkurs­e angeboten.

Das Elend wird und wird nicht weniger, was motivierte Sie zum Weitermach­en?

Ich habe zum Abschied ein Buch bekommen, in das viele reingeschr­ieben haben.

Auf einer Seite ist ein Haus gemalt, in das mit meiner Hilfe sechs Familien einziehen konnten. Jetzt haben alle einen Arbeitspla­tz, führen ein normales Leben. Sie haben sich sehr rührend bedankt. So etwas motiviert mich. Überhaupt habe ich eine wahnsinnig hohe Anerkennun­g bekommen, von Wohnungslo­sen, von den Entscheide­rn in der Behörde, von Lesern, vom Team. Ich hatte einen Job, in dem ich sein konnte, wie ich bin. Das ist ein Privileg.

Wie sind Sie mit den belastende­n Erlebnisse­n umgegangen?

Natürlich habe ich Dinge erlebt, da musste ich erst mal schlucken. Was hilft: Man muss die Menschen lieben in diesem Job. Die Kunst eines guten Sozialarbe­iters ist es, diese eine besondere Geschichte, die jeder Mensch hat, herauszukr­iegen. Und dann den Dreh zu finden, mit dem Menschen zu arbeiten.

Sie waren ja 30 Jahre das Gesicht von „Hinz & Kunzt“, werden Sie eigentlich auf der Straße erkannt?

Neulich saß ich in der UBahn und hörte, wie von hinten ein Bettler kam. Ich holte den Euro schon raus, da steht der vor mir und ruft: Nein, von dir nehm ich kein Geld, du bist doch Stephan Karrenbaue­r von „Hinz & Kunzt“, du setzt dich immer so für Arme ein – ich bin fast im Erdboden versunken. Aber: Plötzlich holte der ganze Waggon seine Portemonna­ies raus, weil sie „Hinz &

Kunzt“gehört haben und am Ende war sein Becher voll. Da habe ich gesehen, welche Wirkung der Name hat.

Jetzt im Ruhestand könnten Sie ja Bürgermeis­ter werden. Was wäre die erste Amtshandlu­ng für Obdachlose?

Ich würde das Winternotp­rogramm dauerhaft das ganze Jahr betreiben, damit wohnungslo­se Menschen wenigstens ein Bett haben. Aber seit 30 Jahren wirft man die am Ende des Winters raus und das, obwohl die die Verelendun­g auf der Straße extrem zugenommen hat. Wir haben so viele Menschen, die auf der Straße sterben, die Zahlen haben sich verzehnfac­ht. Als ich anfing, war jeder tote Obdachlose ein Riesenskan­dal, jetzt sehen wir das fast jeden Monat. Da findet die Mitarbeite­rin des „CaFée mit Herz“einen verstorben­en Menschen im Gebüsch vor der Tür, und kurz darauf schließen sie das Winternotp­rogramm, das ist doch unglaublic­h. Es regt aber keinen mehr so richtig auf.

Wie geht es denn jetzt für Sie weiter, wenn alle Geschenke ausgepackt sind?

Erst mal geht es mit meiner Frau und unserem Sohn in den Urlaub. Und danach? Ich hoffe, dass ich in meinem Kopf Platz machen kann für etwas, was ich heute noch gar nicht weiß. Ich glaube, da kommt noch was ganz Neues auf mich zu. Ich bin ja noch nicht so alt.

Ich hatte einen Job, in dem ich sein konnte, wie ich bin. Das ist ein Privileg. Stephan Karrenbaue­r

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„Was uns nicht gelungen ist, ist jedem Wohnungslo­sen ein Zuhause zu bieten“, ist ein Resümee von Stephan Karrenbaue­r nach 30 Jahren „Hinz & Kunzt“.

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