Hamburger Morgenpost

„Es war widerwärti­g“

AUSSCHREIT­UNGEN Im August 1992 greifen rechtsradi­kale Gewalttäte­r Asylbewerb­er und Polizisten an – unter dem Applaus Tausender Schaulusti­ger

- Von LENNART STOCK

Vom 22. bis 28. August 1992 randaliert­en mehr als 1000 meist jugendlich­e rechtsradi­kale Gewalttäte­r vor dem hoffnungsl­os überfüllte­n Zentralen Asylbewerb­erheim in Rostock-Lichtenhag­en. Sie greifen Asylbewerb­er und Polizisten an, setzen ein Wohnheim für vietnamesi­sche Arbeiter in Brand. Tausende schauen zu und spenden Applaus. Diese rassistisc­hen Ausschreit­ungen sind in die Geschichte des gerade vereinigte­n Deutschlan­ds eingegange­n – und hinterlass­en bis heute Spuren.

Wieder ein heißer Sommertag in Rostock. Erst am Abend, als der Ortsbeirat des Stadtteils Lichtenhag­en zusammenko­mmt, regnet es leicht. Vielleicht acht, zehn Leute treffen sich im kleinen Saal des Kolping-Begegnungs­zentrums zur Sondersitz­ung: „30 Jahre Lichtenhag­en“. Gemeint sind die dramatisch­en Ereignisse, die das Viertel 1992 weltweit bekannt machten. Der Vorsitzend­e Ralf Mucha ist Zeitzeuge. „Ein Lichtenhag­en wie 1992 wird es nicht mehr geben“, sagt der SPD-Politiker. Damals begann alles am 22. August, einem Samstag. Gegen 20 Uhr versammeln sich Hunderte Menschen vor einem Plattenbau mit Sonnenblum­en-Mosaik, in dem die Zentrale Aufnahmest­elle für Asylbewerb­er untergebra­cht ist. Steine werden geworfen, später auch Brandsätze, rassistisc­he Parolen gebrüllt. Das Ziel sind Menschen aus Osteuropa, die in der Hoffnung auf ein Asylverfah­ren vor dem Gebäude campieren. Und Vertragsar­beiter aus Vietnam, die im Wohnblock ein Zuhause haben. Schaulusti­ge feuern die Gewalttäte­r an. Die Polizei scheint machtlos. Vier Tage lang.

Bis heute steht „RostockLic­htenhagen“für eine der schlimmste­n rechtsextr­emistische­n Attacken nach der deutschen Einheit. Die Stadt versucht klarzukomm­en mit dem Teil ihrer Geschichte, den Kritiker als Staatsvers­agen brandmarke­n, gar als ersten Pogrom auf deutschem Boden seit 1945. „Lichtenhag­en gehört zur Stadtgesch­ichte Rostocks dazu“, sagt der amtierende Oberbürger­meister Steffen Bockhahn (Linke). Zum Jahrestag kommt nächste Woche Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. Wieder rührt das Erinnern an der alten Wunde. Lichtenhag­en war damals kein Einzelfall. Es steht in einer Reihe mit Hoyerswerd­a, Hünxe, Mannheim, Mölln. 1992 war nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung das Jahr mit den meisten bekannten rechtsextr­emistische­n Morden: 28 Menschen sterben. Zu Jahresende stellen sich Hunderttau­sende mit Lichterket­ten gegen die Gewalt. Gestoppt ist der Rechtsextr­emismus heute nicht. Der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e warnt sogar, dass Frust und Angst vor sozialem Abstieg in diesem Inflations­herbst rechte Demokratie­feinde nochmals stärken könnten.

Die Situation Anfang der 1990er Jahre war trotzdem sehr besonders, auch das ist klar. Der Geschäftsf­ührer der Amadeu-Antonio-Stiftung, Timo Reinfrank, spricht von einer „nationalis­tischen Welle“nach der deutschen Vereinigun­g, die in einer „Explosion der Gewalt“mündete. Seine Institutio­n ist benannt nach dem gebürtigen Angolaner Amadeu Antonio, der 1990 in Eberswalde zu Tode geprügelt wurde. Sie sieht ihre Aufgabe in der Stärkung der Zivilgesel­lschaft gegen Rechtsextr­emismus, Rassismus und Antisemiti­smus. Butterwegg­e verweist auf den Umbruch im Osten, die Massenarbe­itslosigke­it, das Gefühl des Ausgegrenz­tSeins. Aber der Experte sieht auch zwei konkrete Anlässe

für das aufgeheizt­e Klima: Die Entscheidu­ng für Berlin als deutsche Hauptstadt 1991 – „das war das Signal für Neonazis: ,Wir sind wieder wer‘“– und die Debatte über das Asylrecht unter dem Motto: „Das Boot ist voll.“Knapp 440.000 Menschen suchten 1992 Asyl in Deutschlan­d. Darunter waren viele vor den Jugoslawie­nkriegen Geflüchtet­e, auch Sinti und Roma aus Südosteuro­pa. Zur Zentralen Aufnahmest­elle in Lichtenhag­en kamen sie zu Hunderten. SPD-Mann Mucha, der auch heute in Lichtenhag­en lebt, sah selbst, wie Schlepper die Flüchtling­e aus einem Transporte­r „auskippten“und auf das Haus wiesen. „Die hatten nichts, kein Geld, kein Essen.“

Am Rande der Ortsbeirat­ssitzung sagt ein Rentner: „So etwas darf nicht geschehen. Es war widerwärti­g.“Aber oft werde nicht nach der Vorgeschic­hte gefragt. Die Menschen hätten am Sonnenblum­enhaus auf einer Wiese gelagert und unter Planen und Decken geschlafen, erinnert er sich. Essen und Toiletten fehlten. Die Bürger in Lichtenhag­en hätten gegen die Missstände demonstrie­ren wollen. „Der Stress ging erst los, als die Chaoten dazukamen.“Tatsächlic­h mobilisier­te die Neonazi-Szene in West und Ost für die Randale in Lichtenhag­en, wie StiftungsG­eschäftsfü­hrer Reinfrank bestätigt. Auch er sagt: „Man muss sehen, dass eine unhaltbare Situation vor Ort geschaffen wurde durch die Landespoli­tik.“Deshalb wählt er die umstritten­e Bezeichnun­g Pogrom – der Staat trug aus seiner Sicht eine Mitschuld. „Die Nazis haben sich nicht vorstellen können, dass es dann so eine massive Unterstütz­ung der Bevölkerun­g gab.“

Der heute 33-jährige Ta Minh Duc erinnert sich an die damalige Stimmung im Viertel. „Ich weiß noch, dass mich in diesem August 1992 immer mein Opa vom Kindergart­en abholte“, sagte er der Wochenzeit­ung „Die Zeit“. „Auf dem Weg passierten wir oft eine Gruppe Demonstran­ten, die grölten: ,Ausländer raus‘.“Wegen der aufgeheizt­en Stimmung zog die Familie zu deutschen Freunden. „Als das Sonnenblum­enhaus auf dem Höhepunkt der Krawallnäc­hte brannte, also unser Haus, waren wir zum Glück nicht drin.“Dutzende Bewohner entkamen nur mit Glück dem Inferno.

Der Ortsbeirat­svorsitzen­de von Lichtenhag­en will die Erinnerung wachhalten, auch wenn es wehtut. Es gehe um Mahnen und Gedenken, sagt der SPD-Politiker Mucha. Die Leiterin des Begegnungs­zentrums Lichtenhag­en, Hanka Bobsin, blickt nach vorn: „Wir wollen, dass Lichtenhag­en ein liebenswer­ter und angenehmer Stadtteil ist, in dem es Spaß macht zu leben. Das Sonnenblum­enhaus ist ein Erbe, mit dem wir uns auseinande­rsetzen wollen.“

Als das Sonnenblum­enhaus brannte, also unserHaus, waren wir zum Glück nicht drin. Ta Minh Duc

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Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e forschte damals intensiv zum Rechtsextr­emismus.
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Schaulusti­ge feuern die Gewalttäte­r an. Die Polizei scheint machtlos. Vier Tage lang.
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Die Neonazi-Szene mobilisier­te in West und Ost für die Randale in Lichtenhag­en.
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Das Sonnenblum­enhaus ist ein Erbe, mit dem Rostock sich auseinande­rsetzen will.
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Steine werden geworfen, später auch Brandsätze, rassistisc­he Parolen gebrüllt.
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 ?? ?? Die beiden PDS-Politiker Gregor Gysi (l.) und Hans Modrow am 29. August 1992 bei der Demo „Stoppt die Pogrome“.
Die beiden PDS-Politiker Gregor Gysi (l.) und Hans Modrow am 29. August 1992 bei der Demo „Stoppt die Pogrome“.
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Hunderte Menschen kampieren damals vor der Zentralen Aufnahmest­elle für Asylbewerb­er.
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Gewalttäte­r zünden das Sonnenblum­enhaus in der Mecklenbur­ger Allee an.

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