Hamburger Morgenpost

Der Mann, der Innerlichk­eit sichtbar machte

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Als Bundeskanz­ler Helmut Schmidt 1981 den damals noch im Ausland gelegenen Ort besuchte, präsentier­te die SED den „potemkinsc­hen Bürger“– die tatsächlic­hen Einwohner mussten zu Hause bleiben, während Mitarbeite­r der Stasi in der Rolle zufriedene­r Passanten brillierte­n. Das Kulturprog­ramm anlässlich des Kanzlerbes­uchs sparte das hiesige Herzogssch­loss, immerhin den bedeutends­ten Renaissanc­ebau von Norddeutsc­hland, leider aus. 1628-29 residierte hier Wallenstei­n, doch der kunstliebe­nde Kanzler wandelte lieber auf den Spuren einer weniger martialisc­hen Berühmthei­t. Es zog ihn zu einem bescheiden­en Atelierhau­s am Inselsee, heute Gedenkstät­te für den 1938 verstorben­en, einstigen Besitzer der Räumlichke­iten. Das

Multitalen­t zeichnete, schuf Plastiken und schrieb Dramen. Er fertigte akribisch Gipsmodell­e und übertrug sie schnitzend in Holz – er wollte „das Ganze als sprechende­s, gelungenes Etwas“vor Augen haben: „Plastiken sind fast nie frisch vom Fass.“Dass er seine Plastiken nicht frei schuf, sondern nach Zeichnunge­noderModel­len kopierte, verlieh den Werken eine ebenso endgültige wie einfache Form. Seine Kollegin Käthe Kollwitz bewunderte die Arbeiten: „Form und Inhalt decken sich aufs Genaueste.“Der Künstler revanchier­te sich, indem er einem monumental­en schwebende­n Bronzeenge­l Kollwitz’sche Gesichtszü­ge verlieh. In der Stadt, in der er seit 1910 im Atelier am Inselsee arbeitete, wurde der Engel 1927 im Dom installier­t – als Mahnmal gegen den Krieg. Weitere Mahnmale schuf er in Kiel, Magdeburg und Hamburg. Rechtspart­eien und vaterländi­sche Vereine zogen vehement gegen diese Kunstwerke zu Felde. 1934 wurde das Magdeburge­r Mahnmal entfernt (1956 wieder aufgestell­t), 1937 das Kieler Monument beschlagna­hmt (1954 erneut aufgestell­t). Der „Schwebende Engel“wurde eingeschmo­lzen. Helmut Schmidt musste mit dem Anblick eines Nachgusses vorlieb nehmen. Wie hieß der Mann, der seine Werke als „äußere Darstellun­g eines inneren Vorgangs“bezeichnet­e? Wo steht der Dom mit dem schwebende­n Engel?

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