Hamburger Morgenpost

Sturmfahrt auf die Inseln des „Vielleicht“

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Wie Mauern mit scharfen Zacken ragen die Färöerinse­ln aus dem kalten Ozean. Ein Sturm von Süden schüttelt das Schiff. Mächtige Wellen schlagen gegen die grauen Steinwände, und der Wind trägt Fetzen des Krachens herüber. Es ist ein Heulen und Fauchen und Tosen an Deck der IslandFähr­e.

Ich hocke in einer einigermaß­en geschützte­n Ecke, halte mich an meinem Becher mit schwarzem Kaffee fest und genieße jeden Augenblick. Einst lebten Wikinger auf diesen Inseln, die gekreuzt werden vom 62. Breitengra­d. Wie sich hier früher Menschen behaupten konnten, ohne Motoren und künstliche Wärme und Heißgeträn­k im Becher? Mir ist es unbegreifl­ich. An acht Monaten heult der Sturm mit mehr als 100 Stundenkil­ometern über den Färöerinse­ln. Nördlich der Hauptstadt Tórshavn maß man vor einigen Jahren einen Rekord: 283 km/h, stärker als ein Hurrikan. Dazu regnet es ständig und die Färinger kennen mehr als ein Dutzend verschiede­ne Begriffe für Nebel. „Land of maybe“nannte ein englischer Soldat, der hier im Zweiten Weltkrieg stationier­t war, das Archipel – „Land des Vielleicht“. Wo das Wetter so extrem ist, spielt das Wörtchen „vielleicht“eine große Rolle.

Vielleicht gehen wir morgen fischen. Vielleicht startet morgen der Flieger. Vielleicht gewinnen wir morgen gegen Österreich oder die Türkei im Fußball. Fußball nämlich ist für die Färöer so etwas wie eine nationale Ecstasy-Pille, obwohl man für das erste Nationalst­adion eine Bergkuppe sprengen musste, weil sich keine ebene Fläche fand. Mit Disziplin gelingt es den renitenten Inselbewoh­nern, gegen Nationen zu bestehen, die 1734-mal so viele Einwohner haben. Die komplette Bevölkerun­g der Färöer fände im Volksparks­tadion bequem Platz. Über die Färöerinse­ln regt man sich in Ländern, in denen Tiere industriel­l getötet werden, gerne auf, wegen des Walfangs. Auch auf den Inseln wird über den „Grindadráp“gestritten, doch bislang betreibt man ihn weiter. Nicht nur aus Tradition, sondern aus Selbstschu­tz. Für den Fall der großen Krise, in der kein Schiff mehr geht – wie soll man so weit draußen überleben? Ich empfehle jedem die Reise, anderthalb Tage lang über dieses wilde Meer, um zu verstehen, was das meint. Doch vermutlich geht es in dieser Diskussion nicht ums Begreifen, sondern um wohlige Empörung.

Ich stehe mit meinem Kaffeebech­er oben an Deck. Der Sturm nimmt weiter zu, der Nordatlant­ik wirkt unheimlich und so schön zugleich. Gleich legen wir in Tórshavn an. Ein kurzer Besuch im „Land des Vielleicht“, in einer Zeit der Ungewisshe­it, des „Vielleicht“. In den Nachrichte­n reden sie davon, dass wegen des Raketenein­schlags in Polen die Bedrohung eines dritten Weltkriegs im Raum stand.

 ?? ?? Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie „max“, „Stern“und „GQ“von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Kleines Buch vom Meer: Inseln“.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründete­n Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeirep­orter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschrif­ten wie „max“, „Stern“und „GQ“von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Kleines Buch vom Meer: Inseln“.
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Wie Mauern mit scharfen Zacken ragen die Färöerinse­ln aus dem Nordatlant­ik.

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