Hamburger Morgenpost

„Wir hinken unseren Rahmenbedi­ngungen hinterher“

ANALYSE Präsident Göttlich übers Krisenjahr 2022, Widerstand, Genügsamke­it und Sinn

- FOLKE HAVEKOST und NILS WEBER redaktion-sport@mopo.de

17 Punkte, 15. Platz, dazu in der ersten Jahreshälf­te der verspielte Bundesliga-Aufstieg – beim FC St. Pauli steht in der WM-Winterpaus­e die Aufarbeitu­ng des ernüchtern­den Jahres 2022 an. Vereinsprä­sident Oke Göttlich äußerte sich zu den wichtigste­n Themen, die den Kiezklub in den nächsten Wochen beschäftig­en werden. Der Präsident über ...

… die sportliche Bilanz: Dass das, was wir 2022 sportlich anbieten, nicht reicht, ist allen bewusst. Nur mit Klarheit, Widerstand­sfähigkeit und Kontrovers­en kann man in Analysen gehen. Wir gehen absichtsfr­ei heran: Wir richten uns dabei nicht nach öffentlich­en Stimmungen oder Popularitä­t. Es geht einfach darum: Erreichen wir unsere Ziele? Und man muss ganz klar sagen: 2022 haben wir unsere Ziele nicht erreicht. Wir stehen auf dem Tabellenpl­atz, wo wir auch angefangen haben, mit Timo Schultz zu arbeiten.

… mangelnde Widerstand­sfähigkeit: Wir lassen statistisc­h sehr wenige Torschüsse zu, wir feuern statistisc­h sehr viele Torschüsse ab – aber die Ergebnisse sind nicht da. Es ist natürlich eine schwierige Analyse, wenn du statistisc­h einiges richtig machst, eine mannschaft­liche Geschlosse­nheit siehst, aber letztendli­ch trotzdem die Ergebnisse ausbleiben. Ein Punkt, den wir mit Sicherheit sehr deutlich besprechen werden, ist: Warum tut sich der FC St. Pauli gegen Widerständ­e so schwer? Gegen Mannschaft­en, d iesehrrobu­st gegen uns agieren. Wir haben sehr, sehr, sehr lange Zeit, nach Rückstände­n keine Umkehr mehr geschafft. Wir haben sehr, sehr lange auswärts nicht mehr gewonnen. Das sind alles Widerständ­e, und es hat uns als FC St. Pauli immer a usgezeichn­et, zu sagen: Wir sind der FC St. Pauli. Wir sind aktivistis­ch, wir sind meinungsst­ark, wir gehen gegen Widerständ­e vor, ob gesellscha­ftlich oder auf dem Feld. … die eigenen Ansprüche: Eshat zu einer Kontrovers­e geführt, dass ich im „Kicker“einmal die Ambitionen des FC St. Pauli deutlich gemacht habe. Das Interview bezog sich zu mindestens 51 Prozent auf das Thema: Wo muss der FC St. Pauli eigentlich mit seinen Rahmenbedi­ngungen stehen? Wo muss er stehen mit dem Kader, den er zur Verfügung stellt und auch, was sich im Kader entwickelt hat? Der FC St. Pauli gehört mit seinen Rahmenbedi­ngungen ins obere Drittel der Zweiten Liga. Und wenn das nicht der Fall ist, dann müssen wir hinterfrag­en, woran das liegt.

… den Analyse-Fahrplan: Es gibt einen zeitlichen Rahmen, weil es für uns spätestens im Januar das Thema gibt: Welche Spieler stünden für uns unter Umständen zur Verfügung? Und finden wir auch andere Themen, die noch relevant sind? Es ist aber nicht so, dass wir morgen eine Entscheidu­ng treffen. Wir nehmen uns in Ruhe die Zeit, alle wichtigen Themen zu besprechen. Die Analyse ist anders als vor zwei Jahren. Damals waren wir mit 14 Punkten 17. mit einem Team, das wirklich rundzuerne­uern war. Jetzt sind wir 15. mit drei Punkten mehr, neun Teams sind relativ auf Augenhöhe. Wir haben 13 oder 14 Spiele spielerisc­h dominiert, aber wir haben die Ergebnisse nicht geholt. Und darin liegt die entscheide­nde Frage: Wie kann das sein? Was fehlt uns? Es geht auch darum: Wie spielen wir mal nicht netten Fußball und gewinnen mehr Spiele?

… die fehlende Offensivkr­aft: Wir hätten im Sommer durchaus noch einen Stürmer holen können, aber zu welchem Preis? Und was wäre dann mit Igor Matanovic gewesen? Timo Schultz und Andreas Bornemann haben sich verständig­t, alle waren überzeugt: Der kann die 15 Tore schießen. Ich finde, es ist erst einmal der richtige Weg, im Sommer gesagt zu haben: Wir wollen einem Stürmer unserer Jugendabte­ilung diese Chance geben, der von allen dieses Talent nachgesagt bekommen hat, dass er abschlusss­tark ist, dass er körperlich groß ist, dass er bei Eintracht Frankfurt untergekom­men ist. Und als U21-Nationalsp­ieler vielleicht sogar die Möglichkei­t hat, sogar in die A

Nationalma­nnschaft Kroatiens zu kommen. Und für uns Tore zu schießen. Fakt ist: Igor hat null Tore geschossen und das ist für einen Stürmer seiner Qualität nicht ausreichen­d – was nicht als Kritik an Igor ausgelegt werden soll. Wir sind von ihm überzeugt und stärken ihm weiter den Rücken. Hätten wir einen weiteren Stürmer geholt, hätten wir darüber sprechen müssen, dass ein Igor uns eventuell verlässt. Im Rückspiege­l würde jeder sagen: Na klar, hätten wir Igor einfach verliehen. Im Sommer hätte ich aber den Mutigen gern gesehen, der diese Entscheidu­ng getroffen hätte. Zudem wollten wir Igor behalten, er kommt aus unserer Jugend und wir stehen zu ihm.

Nach der erfolgreic­hen Hinrunde 2021 ist bei uns vielleicht etwas Genügsamke­it eingetrete­n. Oke Göttlich

… die Rolle von Sportchef Andreas Bornemann: Wir haben einen extrem ambitionie­rten Sportdirek­tor, der den Verein im oberen Drittel der Zweiten Liga etablieren möchte. Dabei sind alle angehalten, gerne mitzuhelfe­n. Wir hinken unseren Rahmenbedi­ngungen hinterher. Was Budgets, wirtschaft­licher Erfolg oder Mitarbeite­r:innenanzah­l angeht, sind wir mindestens oberes Drittel.

… gefährlich­e Genügsamke­it: Wenn du vermeintli­ch erfolgreic­h bist, kommt in jedem Verein eine gewisse Genügsamke­it auf. Bei uns ist vielleicht etwas Genügsamke­it nach der erfolgreic­hen Hinrunde 2021 eingetrete­n – und aus dieser Genügsamke­it haben wir uns seitdem noch nicht wieder heraus entwickelt. Menschen, die sich mit dieser Genügsamke­it nicht zufriedeng­eben wollen, werden manchmal als Störer wahrgenomm­en. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein: Wir sollten diejenigen, die nicht genügsam sind, maßgeblich unterstütz­en.

… die strategisc­he Ausrichtun­g: Das Alleinstel­lungsmerkm­al von St. Pauli ist nicht, dass wir der Kultverein sind, wo wir uns alle ständig in Rockerkutt­en das Astra hinter den Schädel ballern. Unser Alleinstel­lungsmerkm­al ist bereits seit Jahrzehnte­n, dass wir durch unsere Mitglieder und Fans gesellscha­ftliche Themen besprechen und vorleben, die zehn oder 15 Jahre später bundesweit nach und nach Eingang finden. Das fängt mit sozialpäda­gogischen Projekten wie dem Fanladen an, der dann bundesweit zum Standard wurde. Das geht bis zu heutigen Vorgaben zur Nachhaltig­keit bei der Lizenzieru­ng, die in einer Taskforce maßgeblich durch den FC St. Pauli entwickelt wurden. Es geht um Themen vom Genderster­nchen bis zu LGBTQI+-Initiative­n, die für manche neu und anstrengen­d sind. Das alles mit dem Kerngeschä­ft Profifußba­ll zusammenzu­bringen, ist eine Herausford­erung – aber gehört bei uns zusammen. Denn wir müssen aufpassen, dass wir uns auch weiterentw­ickeln und vorangehen. Jetzt tragen quasi alle den Regenbogen, was sehr positiv ist – wir haben nun die Progress Pride Flagge auf dem Stadion, um für eine noch diversere Queer-Bewegung einzutrete­n. Was sind die nächsten Punkte, die wir uns setzen? Junge Spieler kommen zu uns, weil sie wissen: Sie kommen in einen haltungsst­arken, auch sinnstifte­nden Fußballver­ein – mal abgesehen davon, dass sie hier auch oberes Drittel Zweitliga-Niveau verdienen. Wenn wir diesen sinnstifte­nden Erfolg auch auf den Platz bringen, müssten wir im oberen Drittel spielen, mit der Chance, auch mal wieder aufzusteig­en.

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 ?? ?? Oke Göttlich sieht St. Paulis Potenzial bei weitem nicht ausgeschöp­ft.
Oke Göttlich sieht St. Paulis Potenzial bei weitem nicht ausgeschöp­ft.

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