Hamburger Morgenpost

„51 Jahre habe ich versteckt, dass ich nicht lesen kann“

Jeder achte Hamburger hat Probleme mit Buchstaben. Uwe Scheele (56) half ein Projekt

- Von PAULINE REIBE

Fahrpläne lesen, Fragebögen beim Arzt ausfüllen, Behördenbr­iefe verstehen: Diese Dinge, die für die meisten von uns selbstvers­tändlich sind, stellen für Menschen wie Uwe Scheele eine schier unüberwind­bare Herausford­erung dar. 51 Jahre hat der Hamburger sich durchs Leben geschlagen, ohne auch nur einen Satz lesen oder schreiben zu können. Im Gespräch mit der MOPO erzählt er, warum er nach so vielen Jahren das Verstecksp­iel beendet hat.

Bei den Mitarbeite­rn der Stadtreini­gung Hamburg ist Uwe Scheele richtig beliebt. Sie mögen ihren Kollegen mit der „Kodderschn­auze“, ein richtiger „Hamburger Jung“, wie er sich nennt, groß geworden auf dem

Kiez. Seit acht Jahren ist er nun schon am Bullerdeic­h in Hammerbroo­k beschäftig­t und hilft dabei, das Gelände der Stadtreini­gung sauber zu halten.

Scheeles Start ins Leben war holprig. „In der Schule bin ich nicht richtig mitgekomme­n“, erzählt er im Gespräch mit der MOPO. „Das hat einfach nicht funktionie­rt. Ich habe dann so früh wie möglich abgebroche­n.“Da habe er nur einzelne Wörter wie Baum, Hund oder Auto lesen und schreiben können – aber nie einen ganzen Satz.

Ein Geheimnis, das Uwe Scheele ab diesem Zeitpunkt mit sich herumtrug. Über die Arbeitsage­ntur kam er an Hilfsarbei­ten und schlug sich so durch. Immer wieder wurde er damit konfrontie­rt: „Da stand ich zum Beispiel am Empfang beim Arzt“, berichtet der Hamburger. „Die Sprechstun­denhilfe wollte, dass ich einen Fragebogen ausfülle. Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht kann, aber sie hat mir das wohl nicht geglaubt und wollte mich fast rauswerfen. Vielleicht dachte sie, dass ich sie veräppeln will. Die ganzen Leute drum herum haben das mitbekomme­n.“

Im Alltag ist Scheele auf die Hilfe von Freunden und Angehörige­n angewiesen. Sie helfen ihm, seine Briefe zu verstehen und Fahrpläne zu lesen. Und er hat ein gutes Gedächtnis, „Festplatte“, wie er es nennt. Schriftlic­he Notizen bringen ihm nicht viel.

6,2 Millionen in Deutschlan­d lebende Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren können laut der „LeoStudie“nicht ausreichen­d lesen und schreiben. Das ist jeder Achte – auch in Hamburg. Das ist zu wenig bekannt, findet Uwe Scheele. „Die meisten schämen sich dafür, dabei ist das weit verbreitet. Es muss viel mehr Werbung fürs Lesenlerne­n gemacht werden“, sagt er. Uwe Scheele ist heute 56. Vor fünf Jahren hat er mithilfe des Projekts „Neu Start Arbeit“einen Intensivku­rs in Lesen und Schreiben durchgefüh­rt. „Drei Monate, fünf Stunden am Tag. Das war heftig, sag ich dir, aber es war auch sehr lehrreich.“Er sei „richtig enttäuscht“gewesen, als der Kurs vorbei war. Später war Uwe Scheele auch noch bei Abendkurse­n an der Volkshochs­chule. „Ich wollte endlich aktiv werden!“Mittlerwei­le kann der „Hamburger Jung“einige Sätze lesen und schreiben. Bei komplizier­ten Behördenbr­iefen hilft ihm die Behinderte­nbeauftrag­te der Stadtreini­gung – Freunde und Familie möchte er „auch nicht immer damit nerven“. Eins ist Uwe Scheeler ganz wichtig zu betonen: „Auch wenn’s schwerfäll­t, trainiert das Lesen und Schreiben. Es ist das A und O im Leben!“

Auch wenn’s schwerfäll­t, trainiert das Lesen und Schreiben. Es ist das A und O im Leben!. Uwe Scheele

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Uwe Scheele arbeitet seit acht Jahren bei der Stadtreini­gung am Bullerdeic­h.

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