Hamburger Morgenpost

Der Fußball muss um seine Werte kämpfen

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Ein paar Stunden vor dem Spiel gegen Japan träume ich mal: Nicht nur, dass unsere Kicker bravourös aufspielen und einen glänzenden Sieg einfahren; nein, ich habe einen viel großartige­ren Traum. Und der geht so: DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat nach seinem Kniefall vor der FIFA doch noch in den aufrechten Gang zurückgefu­nden und lässt Manuel Neuer wenn nicht mit der Regenbogen-, dann wenigstens mit der „One Love“-Armbinde auflaufen. Der schrecklic­he FIFA-Präsident Infantino würde in seinem klimatisie­rten Stadion-Sessel hyperventi­lieren, wild rum gestikulie­ren und der Schiedsric­hter müsste irgendwie eingreifen. Dann gäbe es diverse Möglichkei­ten. Die hat Schiedsric­hter-Legende Manuel Gräfe neulich im ZDF aufgezeigt: Von der Gelben Karte bis zum Spielabbru­ch, weil die FIFA die Binde für unerlaubte Propaganda hält. Und dann könnte es lustig werden. Ich träume weiter: Natürlich hätte sich der DFB vorher mit den sechs anderen Mannschaft­en verständig­t, die jene Armbinde tragen wollten, jenen harmlosen Stoff-Fetzen der für Vielfalt, Offenheit und Toleranz werben soll. Zu diesen Mannschaft­en gehören die Größten des Weltfußbal­ls, ohne die jede WM wertlos wäre: Neben Deutschlan­d auch England, Niederland­e und Belgien sowie Dänemark, Wales und die Schweiz. Blieben die allesamt hart und konsequent – ich träume ja nur – müsste die FIFA mit jedem dieser Verbände bei jedem Match in den Clinch gehen. Der Spielbetri­eb würde nachhaltig gestört, die Eskalation könnte bis zum Abbruch der Spiele und bis zur Abreise der Teams führen. Könnte, müsste aber nicht, wenn die FIFA endlich nachgeben würde. Wenn aber nicht, stünde FIFA-Diktator und Großkotz Gianni Infantino, der noch gefaselt hatte, Katar erlebe die größte WM aller Zeiten, splitterfa­sernackt da. Das Endspiel einer solchen WM ohne die großen Mannschaft­en könnten – einfach mal so dahingespo­nnen – Katar und Saudi-Arabien austragen.

Alles nur ein Traum ... oder nicht ? Die Möglichkei­ten sind noch da. Die WM hat gerade erst angefangen. Der Fußball hat noch die Chance, sich seine Würde und seine Werte gegen die korrupte FIFA-Clique zurückzuho­len. Er hat noch die Chance, jene zu blamieren, die von Fußball reden, denen es aber nur um ihren Profit und Macht geht. Dafür bräuchte es nur jene Werte, von denen doch im Fußball so oft die Rede ist: Kameradsch­aft, Verlässlic­hkeit und ein bisschen Mut – viel, viel weniger Mut als ihn die iranischen Kicker zeigten, die sich weigerten, ihre Hymne zu singen und damit den Peinigern zu Hause Respekt zu zollen. Und dass es nicht allzu schade wäre, ginge bei dieser WM 2022 einiges schief, wissen wir doch seit Jahren. Und es wurde noch mal demonstrie­rt mit dem Eröffnungs­spiel vor halbleeren Rängen ohne den berühmten WM-Spirit. Das wäre doch toll: Die WM von Katar kaputt, dafür in Zukunft wenigstens wieder ein bisschen zurück zu den alten Werten.

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Christoph Lütgert war 17 Jahre lang Chefreport­er Fernsehen beim NDR und wurde mehrfach ausgezeich­net.
 ?? ?? Bundestrai­ner Hansi Flick beim Abschlusst­raining der DFB-Elf vor dem Spiel gegen Japan
Bundestrai­ner Hansi Flick beim Abschlusst­raining der DFB-Elf vor dem Spiel gegen Japan

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