Hamburger Morgenpost

Radikales Experiment im Glaskasten

„Kirschgart­en“im Schauspiel­haus hat einen besonderen Dreh, doch es fehlt etwas

- KAM

Die Stücke des berühmten russischen Dramatiker­s Anton Tschechow ähneln sich: Auf abgelegene­n Landgütern müssen sich die Figuren mit dem Sinn – oder der Sinnlosigk­eit – ihrer Existenz auseinande­rsetzen. Im Schauspiel­haus rückt Regisseuri­n Katie Mitchell diesmal einen überrasche­nden Akteur in den Vordergrun­d: den „Kirschgart­en“des Titels nämlich …

Bühne frei für die Natur als Hauptfigur. Auf den großen Videoleinw­änden flattern die Falter, äugen die Eulen, spinnen die Spinnen und huschen die Hasen. Die Bäume des Kirschgart­ens sind alt und die Früchte nicht mehr so süß wie früher, und doch zeigt sich hier überall unbedingte Vitalität.

Das ist der Kniff, mit dem die neue Inszenieru­ng am Schauspiel­haus die Schönheit der Natur und ihre Gefährdung durch den Menschen ausstellt. Die sprechende­n Zweibeiner aus dem Tschechow-Stück sind nur zu hören oder werden per Greenscree­n manchmal in die Landschaft eingeblend­et. Die elf Schauspiel­er:innen stehen die meiste Zeit in einem gläsernen Tonstudio, sprechen und machen Geräusche. Oft sind nur Satzfetzen von ihnen zu vernehmen, dann wieder abgedämpft­es Kauderwels­ch. Gerade genug, um die groben Züge des menschlich­en Dilemmas mitzubekom­men: Das Gut ist überschuld­et. Es müsste alles abgeholzt werden, um dort Sommerhäus­er zu bauen. Schlimm für die Familie. Schlimmer aber für die Tiere.

Das radikale Theaterexp­eriment funktionie­rt anfangs ziemlich gut. Nach einer Stunde ist das Stück eigentlich zu Ende, doch Mitchell lässt es nun noch mal 30 Minuten rückwärts durchspiel­en. Die erwartete Pointe für dieses raffiniert­e und technisch perfekte Bravourstü­ck bleibt jedoch aus. Gut gemeint und toll gemacht, fehlt diesem „Kirschgart­en“genau das, was er nur auf der Leinwand zeigt: echte Lebendigke­it.

➤ 28.11., 8., 26.12., 5.1., Schauspiel­haus, Karten 9-40 Euro, Tel. 24 87 13

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Die Natur ist der Hauptakteu­r, die Schauspiel­er werden manchmal per Greenscree­n eingeblend­et.

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