Hamburger Morgenpost

„Ich kann relativ bedingungs­los weinen“

Kultursena­tor Carsten Brosda (SPD) über Theaterlie­be, die aktuelle Krise der Bühnen, Tipps für Theatermuf­fel und vergrützte Drahtseil-Tänze

- DAS INTERVIEW FÜHRTE MAIK KOLTERMANN maik.koltermann@mopo.de

Rund 50 Theater hat die Stadt. Kultursena­tor Carsten Brosda ist für sie alle zuständig. Darüber hinaus ist er auch noch Präsident des Deutschen Bühnenvere­ins. Was ihn auf der Bühne zutiefst berührt hat, wie er reagiert, wenn ein Stück mal nervt: Der MOPO hat er’s verraten.

MOPO: Meine einzige Rolle im Theater: die eines Zyklopen in der Odyssee, 5. Klasse. Bei Ihnen? Carsten Brosda:

Bei den Pfadfinder­n. Ich glaube Robin Hood. Ich wollte nicht spielen, deswegen hatte ich mir die Souffleur-Position gesichert. Und als dann ein Darsteller ausfiel, musste ich ran. Ich hab’ verdrängt, welche Rolle das war. Der Sheriff von Nottingham? So schlimm war’s nicht. Bruder Tuck wäre nicht unplausibe­l … Meine einzige Schauspiel-Erfahrung. Andere waren talentiert­er. Und ich zu faul zum Auswendigl­ernen.

Waren Sie denn Theater-Fan, bevor Sie beruflich dazu wurden?

Los ging’s bei mir über Besuche mit der Schule. Irgendwann habe ich angefangen, mir mein Studium durch freie Mitarbeit bei einer Zeitung zu finanziere­n. Und was macht man als freier Mitarbeite­r? Abendtermi­ne, auf die Redakteure

keine Lust haben. Oft im Theater. (lacht) Haben Sie auch rezensiert? Ja, manchmal schon. Dabei zugucken, wie da jeden Abend Leute auf dem Drahtseil stehen – das mochte ich. Denn das kann ja furchtbar schiefgehe­n. Und das tut’s gelegentli­ch auch. Aber meistens ist es ungeheuer beglückend, der Kunst beim Entstehen zuzuschaue­n. Das hat man in der Unmittelba­rkeit in keinem anderen Genre.

Ein Stück, das Sie so richtig emotional gepackt hat?

Eine Inszenieru­ng des „Theatermac­hers“von Thomas Bernhard in Oberhausen war unvergessl­ich. Traugott Buhre war als Schauspiel­er eine Naturgewal­t. Als Kind ist man im Theater ja beeindruck­t, weil man das da auf der Bühne für bare Münze nimmt. Hier war ich erstmals

als Erwachsene­r zutiefst berührt. Eine Kraft wie aktuell bei Lina Beckmann als Richard am Schauspiel­haus. Sie waren zu Tränen gerührt?

Ich kann im Kino wie im Theater relativ bedingungs­los weinen. Da braucht es wenig. Wann das letzte Mal? Puh. Bei „Brilka“im Thalia hatte ich Tränen in den Augen. Die Frage ist aber auch eher: wann nicht? (lacht) Wann hat Theater mal konkret genervt oder gelangweil­t?

Auch das gehört dazu. Da sitzt man mal da und denkt: „Diese Idee geht offensicht­lich nicht auf. Warum zieht ihr das trotzdem durch?“Ich bleibe aber aus Respekt vor den Künstlern. Und wenn die schlechte Idee vier Stunden dauert, dann bleibe ich vier Stunden. Ein Aspekt von Kunst ist für mich auch, dass sie scheitern kann. Wer das nicht so anlegt, der versucht nicht, was Großes zu machen. Konkrete Hamburger Beispiele? „Lulu“an der Oper, Inszenieru­ng von Marthaler, Nagano am Pult. Keine einfache Musik, nicht kurz, da haben die an das Stück hintendran noch das Violinkonz­ert von Berg gepackt. Wenn man das in der Ankündigun­g liest, denkt man: Muss das sein? Und dann bist du da drin und denkst: Großartig! Ich saß da unfassbar beglückt. So kann es gehen. Dann greift alles ineinander.

Theater sind in der Krise. Viele

Dabei zugucken, wie jeden Abend Leute auf dem Drahtseil stehen – das mochte ich. Das kann ja furchtbar schiefgehe­n.

Wir sind Herdentier­e. Im Theater gemeinsam zu sein – das ist etwas anderes als im kalten blauen Licht allein vor der Kiste.

einstige Besucher setzen offenbar nach Jahren der Pandemie auf Netflix und Co. als Ersatzdrog­e. Was entgeht denen?

Ganz viel. Aber ich bin gar nicht so sicher, ob’s den Theatern so schlecht geht. Nicht? Natürlich kämpfen alle darum, ihr Publikum zurückzuho­len. Wir haben mit all den Regeln der Pandemie einen Hindernis-Parcours aufbauen müssen, anstatt Türen aufzureiße­n und zu sagen: Hast du Lust? Komm rein! Das geht jetzt aber wieder. Klar, hinzu kommt die Klebekraft der Couch: Man muss einmal den Schweinehu­nd überwinden, um wieder zu entdecken, was man verpasst hat. Und ja, dann wird noch alles teurer ... Sicher, das ist eine schwierige Melange. Anderersei­ts brauchen wir gerade jetzt Orientieru­ng. Was macht uns aus? Wie geht’s weiter? Da kann Theater Antworten geben. Netflix auch ... Stimmt. Aber Theater kann das in Gemeinscha­ft. Und es hat eine Unmittelba­rkeit, die frappieren­d sein kann. Ich erinnere mich an den ersten Theaterabe­nd nach dem Lockdown im Schmidts. Was für ein Fest. Oder kurz danach ein Hölderlin-Abend mit Jens Harzer. Das war berührend, weil man merkte, wie sehr sich alle vor Ort daran erfreuten, einander wiederzuha­ben. Das war wie ein langes Telefonat zwischen Teenagern, bei denen sich beide ihrer Liebe versichern und keiner auflegen will. Wir sind Herdentier­e. Und im Theater gemeinsam zu sein, das ist etwas anderes als im kalten blauen Licht allein vor der Kiste. Es tut uns gut zurzeit. Und es hilft auch, mal in so einen Saal einzutauch­en und für zwei Stunden die Welt da draußen zu vergessen. Eskapismus?

Klar. Nicht immer nur erklären und deuten. Kommt her und lasst euch unterhalte­n! Lasst euch fallen. Träumt mal zwei, drei Stunden mit uns. Eines der Theater heißt „Ohnsorg“. Was für ein Verspreche­n!

Die Hälfte aller Menschen geht nie in öffentlich geförderte Kultureinr­ichtungen ...

Wenn die sagen: Kino, Games, ich lade mich anders kulturell auf – fein. Niemand

muss, auch wenn’s schade ist. Denjenigen aber, die sagen: „Mich wollen die da nicht. Ich bin damit nicht gemeint. Ich habe nicht das Richtige anzuziehen“, denen sage ich: Kommt vorbei. Wenn ihr erst mal drin seid, merkt ihr, mit Jeans und TShirt kann man sich da hinsetzen und keiner guckt schräg. Und man braucht auch keine vier Semester Germanisti­k, um zu verstehen, was da auf der Bühne passiert. Mach dir deinen eigenen Reim. Wenn’s nicht funkt, okay, dann hat man’s ausprobier­t und findet sicher was anderes.

Einsteiger-Tipps für Theater-Banausen wie mich?

Das Thalia Theater hat’s wieder aufs Tablett gehoben: „Das achte Leben (Für Brilka)“. Auch so ein Ding: fünfeinhal­b Stunden ..“Fünfeinhal­b Stunden? DAS ist Ihr Einsteiger-Tipp?

Ja! Ich hab‘s inzwischen dreimal gesehen, und ich erinnere mich genau ans erste Mal. Ich wollte nicht. Samstagabe­nd, fünfeinhal­b Stunden: Nee. Und dann dachte ich: „Du bist Kultursena­tor, du gehst!“Das war mit das süffigste Stück, das ich je gesehen hab. Als ich rauskam, traf ich eine Freundin und wir sahen uns an und sagten: „Noch mal!“Es ist wirklich toll. Wer’s kürzer will, geht ins Opernloft. Keine Oper über 90 Minuten. Super! Noch eine Empfehlung? Ich mag sehr den „Macbeth“im Schauspiel­haus. Es zeigt die ganze Kraft eines Schauspiel­ers. Kristof Van Boven – super! Nicht so wie man das aus der Schule kennt, aber toll. Ansonsten: Kammerspie­le, Ernst-DeutschThe­ater, Lichthof, Fundus – probiert’s aus, es ist für jeden was dabei. Man kann mit 1600 Zuschauern ’ne Nabucco-Inszenieru­ng an der Staatsoper gucken, mit hoher aktueller Dringlichk­eit. Da singen zwischen den Akten Geflüchtet­e syrische Lieder, was durch die Geschehnis­se im Iran neue Aktualität hat. Und man kann mit 20 Leuten auf 30 qm im Theater „Das Zimmer“in Horn sitzen und dabei sein, wenn sich drei Leute auf der Bühne die Seele auswringen. Theater ist so vielfältig, so bunt, ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand sagt: Da finde ich nichts für mich.

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 ?? ?? Senatoren-Tipp 1 für Theatermuf­fel: Kristof Van Boven als „Macbeth“im Schauspiel­haus
Senatoren-Tipp 1 für Theatermuf­fel: Kristof Van Boven als „Macbeth“im Schauspiel­haus
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Carsten Brosda (SPD, 48) ist seit Anfang 2017 Kultursena­tor.
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Senatoren-Tipp 2: „Das achte Leben (Für Brilka)“im ThaliaThea­ter – fünfeinhal­b Stunden lang.

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