Hamburger Morgenpost

Dem Publikum stockt der Atem

KRITIK Standing Ovations für Kriegs-Ballett – Lob von Scholz

- Von PIA STEINHAUS

Ein Atompilz breitet sich im Zeitlupent­empo aus – als filmische Projektion auf einer transparen­ten Wand. Dahinter bewegt sich ein Mensch, fast nackt, verzweifel­t, Schutz suchend. Getanzte Bilder, die den Atem stocken lassen. Am Sonntagabe­nd wurde John Neumeiers jüngstes Werk in der Staatsoper uraufgefüh­rt. „Dona Nobis Pacem“riss das Publikum zu Standing Ovations aus den Sitzen.

Bei hellem Licht im Zuschauerr­aum hetzt ein junger Soldat auf die Bühne, stürzt und verkriecht sich in einer Ecke. Seine Angst steht am Anfang des zweistündi­gen Abends. An dessen Ende erklingt die Bitte: „Gib uns Frieden!“– „Dona Nobis Pacem“. Nichts Geringeres als eins der bedeutends­ten Werke der Musikgesch­ichte – Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll – wählte John Neumeier für seine (vorerst) letzte Kreation in der 50. Spielzeit mit dem Hamburg Ballett. Die Entscheidu­ng fiel lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, doch sind die choreograf­ischen Episoden durchaus von Kriegsbild­ern motiviert. Ballettsch­üler, uniformier­t als Kindersold­aten, marschiere­n in den Tod, sie schließen sich einem Zug erwachsene­r Kämpfer an und bilden mit ihnen eine Menschenre­ihe, die wie ferngesteu­ert in gleißendem Licht verschwind­et. Engelsglei­che Wesen nehmen sich der Sterbenden an, weitere Trostspend­er – darunter die strahlende Madoka Sugai und der souveräne Alexandr Trusch – verkörpern Menschen, die sich mit Ruhe und Stärke der Gewalt entgegenst­ellen. Der Erste Solist Aleix Martínez führt als personifiz­iertes Leitmotiv durch das Werk, sein Tanz berührt zutiefst und scheint nicht mehr von dieser Welt. Ähnliches gilt für die Musik: Holger Speck leitet das Ensemble Resonanz sowie das Vocalensem­ble Rastatt mit fünf großartige­n Gesangsoli­sten. Die Hiroshima-Szene habe ihn besonders beeindruck­t, gestand Bundeskanz­ler Olaf Scholz im Anschluss in seiner Rede, und er machte dem Choreograf­en ein wunderbare­s Kompliment: John Neumeiers Arbeit leiste einen großen Beitrag dazu, dass Hamburg als „schönste Stadt der Welt“gelten kann, und er freue sich sehr, dass er „bei uns geblieben“sei – so der Hamburger.

Die größte Herausford­erung seines Lebens wird für John Neumeier vielleicht zum größten Erfolg seiner Karriere.

Staatsoper: 7.-9.12., 4./5.1., 19.30 Uhr, 7-119 Euro, Tel. 35 68 68

 ?? ?? Aleix Martínez, Erster Solist, mit Ballettsch­ülern, die in Uniformen Kindersold­aten darstellen
Aleix Martínez, Erster Solist, mit Ballettsch­ülern, die in Uniformen Kindersold­aten darstellen

Newspapers in German

Newspapers from Germany