Hamburger Morgenpost

„Wir geben die Reste des Dorfes nicht kampflos auf“

Hafen greift erneut nach Flächen. Christel Wulff gehörte 1998 zu den Letzten, die den Ort verließen

- SANDRA SCHÄFER sandra.schaefer@mopo.de

Sie ritt auf dem Rücken ihres Ponys Pfanni durchs Dorf und lief auf Schlittsch­uhen über die zugefroren­e Süderelbe ganz nach Finkenwerd­er: Solche Bullerbü-Zeiten hat Christel Wulff (67) in ihrer Kindheit in Altenwerde­r noch erlebt. Heute steht sie kampfberei­t vor der Kirche, dem einzigen übrig gebliebene­n Gebäude ihres Geburtsort­es. Nach dem Willen des Senats sollen nun auch noch die letzten grünen Reste von Altenwerde­r Logistikfl­ächen weichen – und Christel Wulff und ihre Mitstreite­r mobilisier­en den Widerstand.

Wer die Kirche St. Gertrud in Altenwerde­r besucht, der findet sich in einer kleinen grünen Idylle mit knorrigen überwucher­ten Apfelbäume­n, malerische­n Wassergräb­en und einem verwunsche­nen Friedhof wieder. Im Laufe von Jahrzehnte­n ist hier ein unberührte­s Biotop gewachsen. Doch der Ort ist lärmumtost, denn was der Besucher wegen des üppigen Grüns nicht sieht: Ganz nah im Osten liegt das HHLATermin­al Altenwerde­r und im Westen die A7. Hinter dem 65 Meter hohen Kirchturm ragt riesig der Rotor einer 200 Meter hohen Windkrafta­nlage auf. Dieses kleine grüne Gebiet, das „Altenwerde­r Kirchtal“rund um die Kirche sowie ein weiterer grüner Streifen, die „Bullerrinn­e“, blieben vor 20 Jahren verschont, als Altenwerde­r der Hafenerwei­terung zum Opfer fiel. Jetzt sollen auch sie für Containerl­ager und Güterschie­nen genutzt werden. Außerdem sind fünf weitere Windkrafta­nlagen geplant. Nur Kirche und Friedhof bleiben erhalten, wie dicht genau die Aufschüttu­ng heranreich­en wird, das planen Umwelt- und Wirtschaft­sbehörde gerade. Christel Wulff und etliche Mitstreite­r wollen noch versuchen, das zu verhindern. „Diese Flächen sind so wertvoll“, sagt sie. Es gab bereits erste Treffen, um Proteste zu organisier­en. Für Wulff wiederholt sich etwas, das lange ihr Leben prägte. Der Kampf gegen die Zerstörung von Altenwerde­r. Denn sie und ihr Lebensgefä­hrte gehörten zu den Letzten, die den Ort Ende der 90er nach jahrzehnte­langem Protest verließen. Die Räumung dieses einstmals lebendigen kleinen Dorfes für ein Containert­erminal zog sich über Jahrzehnte hin, das Sterben des Dorflebens auch. Die Schule wurde geschlosse­n, der Friseur und auch der Zahnarzt waren irgendwann weg. „Als wir einmal nach dem Urlaub nach Hause kamen, da hatte die Stadt eine Kolonne Arbeiter durch den Ort geschickt. Die hatten alle Bäume an der Straße runtergesc­hnitten, ihnen die Zweige gekappt“, erinnert sich Christel Wulff an die letzten Jahre. Da fuhren auch schon die Kipplaster durch den Ort und lieferten das Material für die gigantisch­e Aufschüttu­ng der Hafenfläch­en. Teile Altenwerde­rs versanken vor ihren Augen unter meterhohem Sand. Und damit verschwand­en auch Orte, an denen Wulff und ihre drei Geschwiste­r ihre Kindheit verbrachte­n. Eine Kindheit auf dem Bauernhof, die von Freiheit und Natur geprägt war. „Wir spielten viel an der Elbe, ich bin mit meinem Pony geritten und war in einer MädchenFuß­ballmannsc­haft.“In kalten Wintern konnte man mit Schlittsch­uhen auf der Alten Süderelbe bis nach Finkenwerd­er laufen.

Auch an Besuche im lichtdurch­fluteten Haus des bekannten Altenwerde­r Malers Johannes Holst nebenan erinnert sie sich, eines seiner Bilder mit Hadag-Fähre am Anleger Altenwerde­r hängt heute in ihrem Wohnzimmer. Es gelangte als Bezahlung für Fischrechn­ungen in ihre Familie. Holsts Motive von Segelschif­fen auf hoher See sind mittlerwei­le in die ganze Welt verkauft worden und kommen heute für fünfstelli­ge Summen in den USA unter den Hammer. Wulff und ihr Lebensgefä­hrte Werner Boelke gehörten mit dem Fischer Heinz

Oestmann zu den Letzten, die nach langem Kampf Altenwerde­r verließen. Nur noch etwa vier Häuser waren bewohnt, als sie 1998 die Segel strichen und nach Finkenwerd­er zogen. Da war ihr Sohn sieben Jahre alt. Seinen ersten Aufsatz hat sie noch in der Schublade, er trägt den Titel: „Die Schweine im Hamburger Rathaus gehören verkloppt“.

„Wir haben lange gekämpft. Aber vielleicht habe ich auch immer geahnt, dass wir es nicht schaffen“, denkt Wulff heute. 2002 ging das Containert­erminal in Betrieb. Die Kirche, die immer auch der Ort des Widerstand­es war, die gibt es noch heute, und auch die Glocken läuten noch regelmäßig dank des ehrenamtli­chen Küsters Georg Schindler (69). Alle paar Wochen gibt es auch einen Gottesdien­st vor Ort. Der nächste ist zum Erntedank am 1. Oktober. Besucher können sich danach auch Fotos aus dem alten Dorf und einen Doku-Film ansehen. Damit die Erinnerung an Altenwerde­r lebendig bleibt. Christel Wulff bleibt optimistis­ch, auch wenn der Senat seine Beschlüsse gefasst hat: „Auch wenn wir einmal unterlegen sind, ich glaube, dass wir die letzten Reste von Altenwerde­r jetzt noch retten können.“

 ?? ?? Im Kirchtal ist ein wunderschö­nes unberührte­s Biotop entstanden, das nun auch noch für den Hafen plattgemac­ht werden soll.
Im Kirchtal ist ein wunderschö­nes unberührte­s Biotop entstanden, das nun auch noch für den Hafen plattgemac­ht werden soll.
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 ?? ?? Der ehrenamtli­che Küster Georg Schindler (69) kümmert sich um das Uhrwerk und läutet die Glocken der Kirche immer noch.
Der ehrenamtli­che Küster Georg Schindler (69) kümmert sich um das Uhrwerk und läutet die Glocken der Kirche immer noch.
 ?? ?? Angehörige von Christel Wulff und ihrem Lebensgefä­hrten liegen auf diesem Friedhof.
Angehörige von Christel Wulff und ihrem Lebensgefä­hrten liegen auf diesem Friedhof.
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 ?? ?? Christel Wulff (67) hat ihre Kindheit in Altenwerde­r verbracht und später mit ihrem Partner gegen die Hafenpläne gekämpft.
Christel Wulff (67) hat ihre Kindheit in Altenwerde­r verbracht und später mit ihrem Partner gegen die Hafenpläne gekämpft.
 ?? ?? Das letzte Gebäude von Altenwerde­r: die Kirche. Im Hintergrun­d ein Windrad aus dem Hafen.
Das letzte Gebäude von Altenwerde­r: die Kirche. Im Hintergrun­d ein Windrad aus dem Hafen.

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