Die „Liebende des Jahrhunderts“
Nach überstandener Tuberkulose wünschte die 16-jährige Henriette, Tochter einer Pariser Kurtisane, einem Nonnenkloster beizutreten. Der Duc de Mornay, leibhaftiger Halbbruder Napoleons III. und zu jener Zeit aktueller Verehrer ihrer Mutter, entschied jedoch anders. Der magere, stets kränkliche Teenager sollte eine Schauspielausbildung erhalten. Henriette wurde am staatlichen Conservatoire eingeschrieben. Bald darauf durfte sie zur angesehenen ComédieFrançaise wechseln. Aber dort blieb sie nicht lange: In einem fulminanten Wutanfall prügelte die Nachwuchsdiva eine Mitschülerin von der Bühne und wurde prompt des Instituts verwiesen. Henriettes emotionelle Unberechenbarkeit knickte ihre Karriere keineswegs. Kritiker und Publikum lobten die Echtheit ihrer im Bühnenspiel präsentierten Gefühle und ihren feurigen Vortragsstil. Sie wurde die „Göttliche“, ein Superstar. Noch heute gilt sie als berühmteste und großartigste „Kameliendame“, die je die Hauptrolle in Dumas’ romantischem Liebesdrama verkörperte. Trotz des Weltruhms litt sie sehr unter Lampenfieber. Während der Vorstellungen verausgabte sie sich oft derart, dass sie nach dem finalen Vorhang zusammenbrach. Ihr von der Tuberkulose geschwächter Körper (eine verschnupfte Bühnenrivalin bezeichnete ihn einst als „hübsch poliertes Skelett“) zeigte sich den Energieleistungen nicht immer gewachsen. Trotzdem pries man sie während der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts als die Schönheit schlechthin. Später enthüllte die Diva: „Ich war eine der großen Liebenden meines Jahrhunderts“– durchaus nicht bloß auf der Bühne. Zu ihren ergebenen Verehrern zählten Gustave Doré, Victor Hugo, Émile Zola und der Prince of Wales, der spätere Eduard VII. 1880 gründete sie ein eigenes Ensemble und ging auf Welttournee, die sie durch die USA bis nach Australien führte. 1913 wirkte sie als erste prominente Bühnenschauspielerin in einem Film mit (in der Rolle der englischen Königin Elisabeth). Zwei Jahre später ereilte die mittlerweile 71-Jährige ein schwerer Schicksalsschlag. Ein Unfall machte sie zur beinamputierten Invalidin. Trotzdem kehrte sie auf die Bühne zurück, als deren größter Star sie – gemeinsam mit ihrer Zeitgenossin Eleonora Duse – galt. Sie arbeitete bis zu ihrem Tod am 26. März 1923 in Paris. Unter welchem Namen trat die unvergessene Diva auf?