Keine Zeit für Extra-Erklärrunden
Eltern kritisieren: Schüler mit Lernschwächen werden an normalen Schulen alleingelassen
Hannover. Maja (Name geändert) ist acht Jahre alt und geht auf eine ganz normale Schule in Hannover. Doch eigentlich würde ihre Mutter sie lieber auf eine Schule schicken, an der sie besser gefördert wird. Maja hat Lern- und Konzentrationsprobleme. „Wenn die Lehrerin der Klasse etwas erklärt, versteht mein Kind das nicht auf Anhieb. Sie bräuchte jemanden, der neben ihr sitzt und ihr alles noch mal langsam Schritt für Schritt erläutert.“
Aber so jemanden gibt es nicht. An den Regelschulen fehlen die Sonderpädagogen. In jeder Klasse unterstützen sie die Lehrer nur zwei Stunden in der Woche. „Das reicht hinten und vorne nicht“, klagen Grundschulleiter. Maja bringt fast jeden Monat eine Sechs mit nach Hause. Frust für sie, ihre Eltern, aber auch für die Klassenlehrerin, der die Zeit und die personelle Unterstützung für Extra-Erklärrunden fehlt. An eine Förderschule für Kinder mit Lernproblemen kann Maja nicht mehr gehen, diese Schulform wird es bald nicht mehr geben. Ab diesem Sommer werden dort nur noch Kinder ab Klasse sechs aufgenommen.
Studienplätze verdoppelt Sonderpädagogen sind allerorts Mangelware. Und Nachwuchs ist erst mal nicht in Sicht. Zwar hat das Land die Zahl der Studienplätze verdoppelt. Ab 2018 können in Oldenburg und Hannover jeweils 200 Bachelor-Studenten Sonderpädagogik belegen und noch mal so viele Master-Studenten. Aber bis diese Förderschullehrer tatsächlich in den Schulen ankommen, dürften mindestens noch drei Jahre vergehen.
Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) prüft deshalb, ob nicht andere Fachkräfte – Erzieher, Heilpädagogen oder Ergo- und Sprachtherapeuten – zur Unterstützung an die Regelschulen kommen könnten. Wie viele das sein müssten, werde gerade ausgerechnet, sagte sie gestern. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte in der vergangenen Woche gefordert, rund 1000 zusätzliche Fachkräfte an den Regelschulen einzustellen.
Weil es einerseits zu wenig Förderschullehrer gibt, andererseits die Zahl der Kinder mit Handicap an den Regelschulen wächst, droht eine gefährliche Schieflage, die das Projekt Inklusion zum Scheitern bringen könnte. Die Kultusministerin rät zur „Entdramatisierung“in der Kritik: „Es ist keineswegs so, dass Hunderttausende behinderte Kinder an die Regelschulen drängen.“Insgesamt gibt es derzeit 43 200 Kinder mit Handicap in Niedersachsen, 11 000 mehr als vor vier Jahren. Allein in den Jahrgängen eins bis acht, für die das Recht auf Inklusion gilt, haben sich gut 61 Prozent der Kinder für eine Regelschule entschieden. Es gebe eine Vielzahl von Gründen, warum die Zahl der Kinder mit Beeinträchtigung seit 2013 um ein Viertel angestiegen sei, sagte Heiligenstadt. Experten vermuten, dass viele Schulen darin auch ein Mittel sehen, um ihre sonderpädagogischen Ressourcen zu erhöhen. Stellt die Schule bei der Landesschulbehörde den Antrag, dass ein Kind auf sonderpädagogischen Förderbedarf überprüft wird, und wird dem zugestimmt, können Eltern das Verfahren nicht stoppen. Sie können aber bestimmen, ob das Kind eine Regel- oder eine Förderschule besucht.
„Inklusion ist ein Prozess“Ist ein Förderbedarf einmal festgestellt, wird jährlich überprüft, ob er noch besteht. Gerade bei Kindern mit Sprachschwierigkeiten sei dies oft nur ein vorübergehendes Phänomen, sagte Heiligenstadt. Ziel sei es, die Kinder so bald wie möglich wieder an eine Regelschule zu bringen.
Inklusion könne nicht im Hauruckverfahren eingeführt werden, sondern sei ein Prozess, der Zeit und Geld koste, betonte die Ministerin. In der mittelfristigen Finanzplanung seien für die Umsetzung der Inklusion bis 2021 rund 1,5 Milliarden Euro eingeplant. Für 650 neue Lehrer und pädagogische Mitarbeiter seien 231 Millionen Euro im Etat vorgesehen, zudem weitere 6,7 Millionen Euro für Fortund Weiterbildung. Insgesamt hätten sich schon 30 000 Lehrer entsprechend schulen lassen.