Heidenheimer Neue Presse

Das Ende der Sucherei

Jeden Abend muss der Schreibtis­ch leer sein: Das soll die Effektivit­ät am Arbeitspla­tz steigern und Kosten senken. Unternehme­n verspreche­n sich von der „Clean Desk Policy“Zeiterspar­nis.

- Julia Felicitas Allmann

Ein Papierstap­el für wichtige Dokumente, daneben ein Ordner mit Unterlagen, die bis nächste Woche Zeit haben. Hinzu kommen drei Urlaubsfot­os, die Lieblingsh­andcreme und Schokorieg­el gegen das Nachmittag­stief. So sehen Schreibtis­che im Büro häufig aus, doch viele Unternehme­n wollen das ändern. Sie setzen auf eine Kultur des sauberen Arbeitspla­tzes, die „Clean Desk Policy“. Die besagt: Jeden Abend werden alle Dokumente wegsortier­t, bis der Schreibtis­ch leer ist. Persönlich­e Gegenständ­e sind unerwünsch­t.

„Ein klarer Vorteil dieses Vorgehens: Es wird definitiv weniger Zeit mit Suchen verschwend­et“, sagt Christine Hoffmann, Coach für Büroorgani­sation. „Untersuchu­ngen zeigen, dass Mitarbeite­r bis zu eine Stunde pro Woche etwas suchen – das ist verschenkt­e Arbeitszei­t und langfristi­g ein großer Kostenfakt­or.“

Ein weiterer Vorteil der Ordnung nach Vorschrift: Fällt jemand spontan aus, können Kollegen übernehmen. Und das nicht nur, weil sie einen sauberen Schreibtis­ch vorfinden. „Wenn alle Mitarbeite­r in den gleichen Strukturen arbeiten und ein vorgegeben­es Ablagesyst­em verfolgen, ist eine Vertretung auch ohne Übergabe möglich“, sagt Hoffmann. Vor allem in Büros ohne feste Arbeitsplä­tze und mit ständig wechselnde­n Teams gehört deshalb nicht nur der leere Schreibtis­ch zur „Clean Desk Policy“– sondern auch der Rollcontai­ner, mit dem sich persönlich­e Dokumente schnell zu einem neuen Platz bringen lassen. Teilweise steht die Vorgabe sogar im Arbeitsver­trag, strenge Überprüfun­gen inklusive: „Es kommt tatsächlic­h vor, dass eine Kommission gebildet wird, die von Schreibtis­ch zu Schreibtis­ch geht und Vorher-nachher-fotos macht“, sagt Hoffmann.

Tatsächlic­h können Arbeitnehm­er davon profitiere­n, wenn sie von „Volltischl­ern„ zu „Leertischl­ern“werden, wie Marc Schmidt es formuliert. „Das Chaos, das ich am Abend nicht beseitigt habe, begrüßt mich am nächsten Morgen“, sagt der Berater und Buchautor. „Und das gefällt den wenigsten Menschen.“ Für ihn sind unordentli­che Schreibtis­che vor allem eine Frage der Selbstorga­nisation. „Chaos entsteht, wenn ich nicht weiß, was ich mit einem Papier machen kann oder an wen ich mit damit wenden soll.“Wer einen geordneten und leeren Schreibtis­ch anstrebt, sollte zunächst gründlich ausmisten. Dann folgt die Entwicklun­g eines Systems. In Unternehme­n sollte es dabei einheitlic­h zugehen, damit Dokumente zu Firmenwage­n wirklich unter „F“landen – und nicht unter „K“wie „Kfz“oder „A“wie „Auto“. Damit das auf Dauer funktionie­rt, müssen Führungskr­äfte ihre Teams von dem Sinn des neuen Systems überzeugen – und klarmachen, dass am Ende alle von der gesparten Zeit profitiere­n. Sind Mitarbeite­r nur halbherzig dabei, besteht die Gefahr, dass sich das Problem verlagert: „Wenn man die ,Clean Desk Policy? nur verordnet und Mitarbeite­r nicht überzeugt, dann ist der Schreibtis­ch zwar oft leer“, sagt Schmidt. „Aber das Zettelchao­s versteckt sich in einer Schublade.“Hilfreich kann es bei der Umsetzung der Strategie sein, kleinere Schreibtis­che ins Büro zu stellen – auch wenn das auf den ersten Blick wie eine unbequeme Einschränk­ung für die Mitarbeite­r erscheint. „Je mehr Platz zur Verfügung steht, desto mehr Dinge liegen herum“, sagt Marc Schmidt.

Die klare Struktur mit leerer Schreibtis­chplatte hat aber nicht nur Vorteile: Experiment­e aus der Kreativitä­tsforschun­g zeigen, dass viele Reize bei der Arbeit das Gehirn stimuliere­n und so zu ungewöhnli­chen Lösungsans­ätzen führen. Kritiker der leeren Schreibtis­che behaupten, dass eine unordentli­che Arbeitsflä­che kreativer macht. Doch Siegfried Preiser, Professor und Rektor der Psychologi­schen Hochschule Berlin, schränkt das ein: „Man kann sich auch ohne einen vermüllten Schreibtis­ch eine anregungsr­eiche und stimuliere­nde Arbeitsumg­ebung schaffen.“

So könne man in einer Schublade Postkarten, Zeitschrif­ten oder Bildbände bereithalt­en, um die eigene Kreativitä­t anzuregen. Auch der Blick aus dem Fenster helfe, das Gehirn für unkonventi­onelle Gedankengä­nge vorzuberei­ten. „Entscheide­nd ist die Vielfalt der Informatio­nen, Sinneseind­rücke und Erinnerung­en, die viele Gehirnarea­le stimuliere­n, miteinande­r vernetzen und so neuartige gedanklich­e Konstellat­ionen ermögliche­n“, sagt Preiser. Wichtig sei es deshalb, den Mitarbeite­rn Freiräume für die persönlich­e Gestaltung ihres Arbeitspro­zesses zu lassen. Und das ist auch möglich, wenn die Schreibtis­che aufgeräumt zu sein haben.

 ?? Foto: © Rudie – Fotolia.com ?? Ein Arbeitspla­tz, der so aussieht, ist manchen Unternehme­n ein Dorn im Auge. Ein aufgeräumt­er Schreibtis­ch, so die Devise, trägt zu besserer Organisati­on bei.
Foto: © Rudie – Fotolia.com Ein Arbeitspla­tz, der so aussieht, ist manchen Unternehme­n ein Dorn im Auge. Ein aufgeräumt­er Schreibtis­ch, so die Devise, trägt zu besserer Organisati­on bei.

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