Abschied von der Stempeluhr
Corona hat einen Boom an Arbeitsformen ausgelöst. Zudem macht der Europäische Gerichtshof Unternehmen klare Vorgaben. Das schafft mittelfristig Handlungsbedarf.
Zur Arbeit hat es Simone B. nicht weit. Die Pharmazeutin, die nicht ihren ganzen Namen in der Zeitung lesen will, geht in den Keller ihres Einfamilienhauses. Dort ist das Arbeitszimmer, ihr Homeoffice. Sie schaltetet den Computer ein und checkt sich in das Arbeitszeiterfassungssystem ein. Ein Klick auf „Kommen“, mehr ist nicht nötig. So weiß das System, dass sie ihren Arbeitstag begonnen hat. Nach getaner Arbeit geht sie wieder online und meldet sich ab. Wieder ist es nur ein Klick. Taucht sie persönlich an ihrem Arbeitsplatz auf, so nutzt sie am Eingang einen Chip. Im System kann sie – und die Personalabteilung – anhand unterschiedlicher Farben später erkennen, wann sie an ihrem Arbeitsplatz war und wann sie von Zuhause aus gearbeitet hat.
Ähnlich handhabt das die Universitätsklinik Ulm. Hier nutzt man im Krankenhaus ebenfalls ein elektronisches System zur Zeiterfassung. „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter buchen sich zu Dienstbeginn und Dienstende mit dem Mitarbeiterausweis über die Erfassungsgeräte ein oder aus“, erläutert eine Pressesprecherin. Im Homeoffice erfolge die Zeiterfassung allerdings über eine schriftliche Mitteilung an den Zeiterfassungsbeauftragten der Abteilung.
Bei Advanced Unibyte, einem Metzinger Unternehmen, das IT und It-infrastruktur-lösungen anbietet, handhabt man das ganz anders. „Da wir die Vertrauensarbeitszeit bei uns im Unternehmen leben, werden bei uns zur Erfassung der Arbeitszeit im Homeoffice keine speziellen technischen Möglichkeiten genutzt“, sagt die Personalleiterin Julia Schöbel. „Wir vertrauen unseren Mitarbeitern voll und ganz und machen hier weder beim Arbeiten vor Ort, noch beim Arbeiten im Homeoffice einen Unterschied.“
Nach einer Umfrage der Fachhochschule Furtwangen erfassen rund 70 Prozent der Betriebe die Arbeitszeiten der Mitarbeiter. Es gibt viele Arten: vom einfachen Eintragen in eine Stundentabelle per Hand oder in Excel über verschiedene Arten der elektronischen Anmeldung mit Hilfe von Chips oder Zugangskarten bis hin zu Apps oder Fingerabdruckscannern.
„Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt“, sagt Bernd Sandmann,
Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei HSK in Augsburg. „Grundsätzlich wird die Arbeitszeit entweder durch Aufzeichnungen des Arbeitnehmers, oder durch heute technisch angepasste Formen des Ein- und Ausstempelns erfasst.“
Hinzu komme immer häufiger eine Plausibilitätsprüfung durch elektronische Kontrollsysteme, die zum Beispiel die Fahrzeiten des Dienstautos, die Arbeitszeit am Computer, Laufzeiten von Maschinen oder den Aufenthaltsort des Mitarbeiters erfassten. Vor allem im Homeoffice verließen sich viele Arbeitgeber aber noch auf die Aufzeichnungen der Mitarbeiter. „Ich halte dies für legitim“, sagt Sandmann.
Was legitim ist und was nicht, fragen sich viele Arbeitgeber seit vergangenem Jahr. Im Frühjahr 2019 hat nämlich der EUGH über einen Fall aus Spanien geurteilt, dass die tägliche Arbeitszeit präzise gemessen werden muss. Die Richter forderten die Eu-mitgliedsstaaten auf, die Arbeitgeber zu verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.
In nationales Recht ist das bisher nicht umgesetzt worden. Aktuell muss in Deutschland in den meisten Wirtschaftszweigen nur die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfasst werden. Ausnahmen gibt es zum Beispiel bei Beschäftigten nach Mindestlohngesetz, Zeitarbeitnehmern
oder Lastwagen-fahrern.
Es wird nun darüber gestritten, ob und wie der Richterspruch auch hierzulande für alle Arbeitnehmer umgesetzt werden soll. Sandmann, der als Professor Arbeitsrecht an der Universität Augsburg lehrt, sagt: „Der EUGH hat nichts dazu gesagt, wie intensiv und exakt die Arbeitszeiterfassung ausgestaltet sein muss.“Die Grenze sei für ihn erst bei einer vollends unkontrollierten Vertrauensarbeitszeit erreicht. „Solange aber der Arbeitgeber die Zeitaufzeichnungen seiner Arbeitnehmer regelmäßig durchsieht und auf ihre Plausibilität hin überprüft, habe ich keine Bedenken.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) schätzt das ein wenig anders ein und beruft sich dabei auf ein Gutachten des Hugo-sinzheimer-instituts. Dessen Autor Daniel Ulber kommt zu dem Schluss: „Nach der Rechtsprechung des EUGH muss jeder Arbeitgeber ein System der Arbeitszeiterfassung einführen, das objektiv, verlässlich und zugänglich ist.“Der Gesetzgeber und die Gerichte hätten diesbezüglich keinen Gestaltungsspielraum.
Derzeit sind viele Unternehmen in dieser Hinsicht gefordert. Denn von der Corona-pandemie ist ein wahrer Boom von Arbeitsformen wie Homeoffice und Kurzarbeit ausgelöst worden. Gelten da besondere Regeln?
„Für im Homeoffice beschäftigte Arbeitnehmer gelten arbeitszeitrechtlich keine Besonderheiten“, sagt Sandmann. Das Gesetz kenne auch keine speziellen Regelungen zur Arbeitszeiterfassung bei Kurzarbeit.
Allerdings: „Da der Arbeitgeber für seine Arbeitnehmer nur dann und nur insoweit Kurzarbeitergeld beantragen kann, wenn es zu einem entsprechenden Zeitausfall gekommen ist, kann der Arbeitgeber diesen nur dann ohne schlechtes Gewissen gegenüber der Bundesagentur für Arbeit glaubhaft machen, wenn er hierzu auch die Arbeitszeit vollständig erfasst hat.“
In der Regel kämen Arbeitgeber grundsätzlich bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz zunächst mit einer Ordnungswidrigkeit davon, sagt er. Insbesondere bei Wiederholungstätern komme man aber in den Bereich des Strafrechts. „Dann kann eine Geldstrafe mit bis zu einem halben Jahresverdienst des Arbeitgebers oder Vorgesetzten schnell empfindliche Höhen erreichen.“
Ein neues System ist das Einund Ausloggen mit dem eigenen Fingerabdruck. Solch ein Fingerabdruck-scanner verarbeitet die Fingerlinienverzweigungen und damit biometrische Daten. Arbeitgeber brauchen dafür allerdings die ausdrückliche Einwilligung jedes einzelnen Arbeitnehmers.
Simone B. hat es da einfacher. Sie hat ihr Tagessoll erfüllt und muss in einer halben Stunde die Kinder vom Kindergarten abholen. Sie klickt einmal auf „Gehen“, fährt den Computer herunter und geht nach oben.
Wir vertrauen den Mitarbeitern voll und ganz. Julia Schöbel Advanced Unibyte
Strafe: Halber Jahresverdienst des Arbeitgebers. Bernd Sandmann Fachanwalt für Arbeitsrecht HSK