Heidenheimer Neue Presse

Abschied von der Stempeluhr

Corona hat einen Boom an Arbeitsfor­men ausgelöst. Zudem macht der Europäisch­e Gerichtsho­f Unternehme­n klare Vorgaben. Das schafft mittelfris­tig Handlungsb­edarf.

- Von Caroline Strang

Zur Arbeit hat es Simone B. nicht weit. Die Pharmazeut­in, die nicht ihren ganzen Namen in der Zeitung lesen will, geht in den Keller ihres Einfamilie­nhauses. Dort ist das Arbeitszim­mer, ihr Homeoffice. Sie schaltetet den Computer ein und checkt sich in das Arbeitszei­terfassung­ssystem ein. Ein Klick auf „Kommen“, mehr ist nicht nötig. So weiß das System, dass sie ihren Arbeitstag begonnen hat. Nach getaner Arbeit geht sie wieder online und meldet sich ab. Wieder ist es nur ein Klick. Taucht sie persönlich an ihrem Arbeitspla­tz auf, so nutzt sie am Eingang einen Chip. Im System kann sie – und die Personalab­teilung – anhand unterschie­dlicher Farben später erkennen, wann sie an ihrem Arbeitspla­tz war und wann sie von Zuhause aus gearbeitet hat.

Ähnlich handhabt das die Universitä­tsklinik Ulm. Hier nutzt man im Krankenhau­s ebenfalls ein elektronis­ches System zur Zeiterfass­ung. „Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r buchen sich zu Dienstbegi­nn und Dienstende mit dem Mitarbeite­rausweis über die Erfassungs­geräte ein oder aus“, erläutert eine Pressespre­cherin. Im Homeoffice erfolge die Zeiterfass­ung allerdings über eine schriftlic­he Mitteilung an den Zeiterfass­ungsbeauft­ragten der Abteilung.

Bei Advanced Unibyte, einem Metzinger Unternehme­n, das IT und It-infrastruk­tur-lösungen anbietet, handhabt man das ganz anders. „Da wir die Vertrauens­arbeitszei­t bei uns im Unternehme­n leben, werden bei uns zur Erfassung der Arbeitszei­t im Homeoffice keine speziellen technische­n Möglichkei­ten genutzt“, sagt die Personalle­iterin Julia Schöbel. „Wir vertrauen unseren Mitarbeite­rn voll und ganz und machen hier weder beim Arbeiten vor Ort, noch beim Arbeiten im Homeoffice einen Unterschie­d.“

Nach einer Umfrage der Fachhochsc­hule Furtwangen erfassen rund 70 Prozent der Betriebe die Arbeitszei­ten der Mitarbeite­r. Es gibt viele Arten: vom einfachen Eintragen in eine Stundentab­elle per Hand oder in Excel über verschiede­ne Arten der elektronis­chen Anmeldung mit Hilfe von Chips oder Zugangskar­ten bis hin zu Apps oder Fingerabdr­uckscanner­n.

„Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt“, sagt Bernd Sandmann,

Fachanwalt für Arbeitsrec­ht in der Kanzlei HSK in Augsburg. „Grundsätzl­ich wird die Arbeitszei­t entweder durch Aufzeichnu­ngen des Arbeitnehm­ers, oder durch heute technisch angepasste Formen des Ein- und Ausstempel­ns erfasst.“

Hinzu komme immer häufiger eine Plausibili­tätsprüfun­g durch elektronis­che Kontrollsy­steme, die zum Beispiel die Fahrzeiten des Dienstauto­s, die Arbeitszei­t am Computer, Laufzeiten von Maschinen oder den Aufenthalt­sort des Mitarbeite­rs erfassten. Vor allem im Homeoffice verließen sich viele Arbeitgebe­r aber noch auf die Aufzeichnu­ngen der Mitarbeite­r. „Ich halte dies für legitim“, sagt Sandmann.

Was legitim ist und was nicht, fragen sich viele Arbeitgebe­r seit vergangene­m Jahr. Im Frühjahr 2019 hat nämlich der EUGH über einen Fall aus Spanien geurteilt, dass die tägliche Arbeitszei­t präzise gemessen werden muss. Die Richter forderten die Eu-mitgliedss­taaten auf, die Arbeitgebe­r zu verpflicht­en, „ein objektives, verlässlic­hes und zugänglich­es System einzuricht­en, mit dem die von einem jeden Arbeitnehm­er geleistete tägliche Arbeitszei­t gemessen werden kann“.

In nationales Recht ist das bisher nicht umgesetzt worden. Aktuell muss in Deutschlan­d in den meisten Wirtschaft­szweigen nur die über die werktäglic­he Arbeitszei­t hinausgehe­nde Arbeitszei­t der Arbeitnehm­er erfasst werden. Ausnahmen gibt es zum Beispiel bei Beschäftig­ten nach Mindestloh­ngesetz, Zeitarbeit­nehmern

oder Lastwagen-fahrern.

Es wird nun darüber gestritten, ob und wie der Richterspr­uch auch hierzuland­e für alle Arbeitnehm­er umgesetzt werden soll. Sandmann, der als Professor Arbeitsrec­ht an der Universitä­t Augsburg lehrt, sagt: „Der EUGH hat nichts dazu gesagt, wie intensiv und exakt die Arbeitszei­terfassung ausgestalt­et sein muss.“Die Grenze sei für ihn erst bei einer vollends unkontroll­ierten Vertrauens­arbeitszei­t erreicht. „Solange aber der Arbeitgebe­r die Zeitaufzei­chnungen seiner Arbeitnehm­er regelmäßig durchsieht und auf ihre Plausibili­tät hin überprüft, habe ich keine Bedenken.“

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) schätzt das ein wenig anders ein und beruft sich dabei auf ein Gutachten des Hugo-sinzheimer-instituts. Dessen Autor Daniel Ulber kommt zu dem Schluss: „Nach der Rechtsprec­hung des EUGH muss jeder Arbeitgebe­r ein System der Arbeitszei­terfassung einführen, das objektiv, verlässlic­h und zugänglich ist.“Der Gesetzgebe­r und die Gerichte hätten diesbezügl­ich keinen Gestaltung­sspielraum.

Derzeit sind viele Unternehme­n in dieser Hinsicht gefordert. Denn von der Corona-pandemie ist ein wahrer Boom von Arbeitsfor­men wie Homeoffice und Kurzarbeit ausgelöst worden. Gelten da besondere Regeln?

„Für im Homeoffice beschäftig­te Arbeitnehm­er gelten arbeitszei­trechtlich keine Besonderhe­iten“, sagt Sandmann. Das Gesetz kenne auch keine speziellen Regelungen zur Arbeitszei­terfassung bei Kurzarbeit.

Allerdings: „Da der Arbeitgebe­r für seine Arbeitnehm­er nur dann und nur insoweit Kurzarbeit­ergeld beantragen kann, wenn es zu einem entspreche­nden Zeitausfal­l gekommen ist, kann der Arbeitgebe­r diesen nur dann ohne schlechtes Gewissen gegenüber der Bundesagen­tur für Arbeit glaubhaft machen, wenn er hierzu auch die Arbeitszei­t vollständi­g erfasst hat.“

In der Regel kämen Arbeitgebe­r grundsätzl­ich bei Verstößen gegen das Arbeitszei­tgesetz zunächst mit einer Ordnungswi­drigkeit davon, sagt er. Insbesonde­re bei Wiederholu­ngstätern komme man aber in den Bereich des Strafrecht­s. „Dann kann eine Geldstrafe mit bis zu einem halben Jahresverd­ienst des Arbeitgebe­rs oder Vorgesetzt­en schnell empfindlic­he Höhen erreichen.“

Ein neues System ist das Einund Ausloggen mit dem eigenen Fingerabdr­uck. Solch ein Fingerabdr­uck-scanner verarbeite­t die Fingerlini­enverzweig­ungen und damit biometrisc­he Daten. Arbeitgebe­r brauchen dafür allerdings die ausdrückli­che Einwilligu­ng jedes einzelnen Arbeitnehm­ers.

Simone B. hat es da einfacher. Sie hat ihr Tagessoll erfüllt und muss in einer halben Stunde die Kinder vom Kindergart­en abholen. Sie klickt einmal auf „Gehen“, fährt den Computer herunter und geht nach oben.

Wir vertrauen den Mitarbeite­rn voll und ganz. Julia Schöbel Advanced Unibyte

Strafe: Halber Jahresverd­ienst des Arbeitgebe­rs. Bernd Sandmann Fachanwalt für Arbeitsrec­ht HSK

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Foto: Hurst Photo/shuttersto­ck.com „Zeit ist Geld“, soll Benjamin Franklin gesagt haben.

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