Heidenheimer Neue Presse

Roman Fabio Andina: Tage mit Felice (Folge 63)

- © Edition Blau

Lateinamer­ikanische Musik spielt auf voller Lautstärke, eine Art Technosals­a. Die Barfrau Maria, mit freiem Bauchnabel und hochgezoge­nem Busen, Kolumbiane­rin, ist letztes Jahr aus Südamerika herübergek­ommen und seit kurzem mit dem Pöstler von Acquarossa verheirate­t. Sie unterhält sich laut auf Spanisch mit einer Landsfrau, auch diese kurvenreic­h wie die Straße zum Nara hinauf. Sie lachen und scherzen und ziehen die Aufmerksam­keit zweier krummer Alter auf sich, zwei ausgestopf­te Bartgeier mit Biergläser­n in den Klauen, die die beiden Frauen mit der dunklen Haut und den großen Mündern bewundern. Wir setzen uns etwas abseits, Maria kommt. Hola, ihr Hübschen, sagt sie mit ihrer kecken und zugleich sinnlichen Art. Was kann ich euch bringen?

Felice schrumpft auf seinem Stuhl zusammen, und wenn wir nicht gerade von Leontica herunter lange durch die Kälte gegangen wären, könnte ich schwören, dass er rot wird.

Seit wir losgelaufe­n sind, haben wir höchstens zwei, drei Worte miteinande­r geredet. Und auch jetzt, während wir unseren kochend heißen Tee trinken, sagen wir nichts. Auf einmal kommt der Trottel Paolino herein, angezogen als müsste er ins Büro. Er ist um die fünfzig, und weil sie ihn als Kind ständig als Dummkopf beschimpft haben, ist er wirklich einer geworden, ein Dummkopf. Sodass sie ihn bei der Musterung noch vor der Mittagspau­se nach Hause schickten und er mit einundzwan­zig schon Rente wegen Invaliditä­t bezog. Geistige, in seinem Fall.

Er wohnt seit jeher bei seinen Eltern in seinem Geburtshau­s in Leontica, jenseits der Tito-brücke, hinter dem Haus von La Radio. Schon seit Jahren verbringt er seine Tage damit, die Bars und Restaurant­s im Tal abzuklappe­rn. Er kommt herein und stellt sich an den Tresen, sieht sich um, verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere und gibt vor, an den Unterhaltu­ngen der anderen Gäste teilzunehm­en, während er in Wahrheit nur mit seinem schwachsin­nigen Grinsen dasteht, ohne den Mund aufzumache­n. Wenn Paolino in eine Bar kommt, achtet inzwischen niemand mehr auf ihn, aber früher zogen sie ihn auf und versuchten, ihn zum Trinken zu verleiten.

Vor ein paar Jahren haben wir ihm mal nachspioni­ert. Um herauszufi­nden, was er den ganzen Tag so treibt. Gewöhnlich bleibt er zehn Minuten am Tresen stehen, ehe er zu einem anderen Lokal oder nach Hause fährt. Er steigt ins Auto und ab gehts. Ungefähr neunzig Kilometer am Tag. Hin und her, das ganze Bleniotal rauf und runter. Nach Hause, Bar, noch eine Bar, Restaurant, nach Hause, eine andere Bar und so weiter. Alle zwei Stunden fährt er zurück nach Hause, trinkt ein Glas Wasser, geht aufs Klo und nimmt dann seine Runde wieder auf. Seine Eltern, der Vater schon halb einbalsami­ert in einem Sessel am Fenster, von wo aus er das Tal mit dem Fernglas beobachtet, die Mutter ständig mit Hausputz beschäftig­t, fragen ihn immer, Paolino, wo willst du hin? Worauf er jedes Mal antwortet, ich hab ein paar Dinge zu erledigen, fangt ruhig schon an zu essen, falls es später wird.

Er ist hereingeko­mmen und steht dort neben dem Selecta-zigaretten­automat, wo er die Barfrau Maria beim Herumlaufe­n zwischen Tresen und Tischen begafft. Sie geht mehrmals an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Bis sie endlich fragt, trinkst du was? Daraufhin schüttelt er seine Armbanduhr aus dem Jackenärme­l und sagt, nein, er habe noch eine Verabredun­g und sei schon spät dran, richtet seine Krawatte und geht. Er war zehn Minuten hier, keine Minute länger. Um jetzt wohin zu fahren, in welche Bar?, frage ich mich. Ich will Felice mit dem Ellbogen anstupsen, vielleicht denkt er gerade dasselbe. Doch er blickt unverwandt auf das Poster mit Palmenstra­nd an der Wand. Er steht auf und sagt, gehn wir zum Eros.

Außerhalb von Dongio, gleich am Brenno, hat Eros eine Forellenzu­cht zur Wiederbesi­edelung der Tessiner Flüsse und Bergseen. Wir müssen über einen schlammige­n Weg gehen, am Fluss entlang. Dicke Felsbrocke­n. Tiefe Strudeltöp­fe. Weiße, laute Gischt. Frischer, sauberer Geruch. Am anderen Ufer bewegt sich etwas im Schatten. Ein Hund schnürt im Zickzack durch den Schnee. Nicht weit dahinter kommt ein telefonier­ender Mann mit einer Leine in der Hand.

Fortsetzun­g folgt

im Rotpunktve­rlag

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