Heidenheimer Neue Presse

Die Würde in der Pandemie bewahren

Ingrid Wöhrle-ziegler und Franz-josef Scholz arbeiten als Klinikseel­sorger am Stuttgarte­r Diakonie-klinikum. Für isolierte Covid-19-patienten sind sie häufig die einzigen Gesprächsp­artner.

- Von Dominique Leibbrand

Ein Interview übers Telefon? Dann doch lieber persönlich. Mit Abstand, Maske und im Freien natürlich. Ingrid Wöhrle-ziegler und Franz-josef Scholz beherrsche­n die Spielregel­n der Pandemie mittlerwei­le aus dem Effeff. Als Klinikseel­sorger am Stuttgarte­r Diakonie-klinikum stehen die beiden Theologen seit einem Dreivierte­ljahr an vorderster Front, besuchen regelmäßig Covid-19-patienten. Eine Zeit, in der sie gelernt haben, Begegnunge­n auch unter erschwerte­n Bedingunge­n möglich zu machen.

Die beiden Theologen, sie evangelisc­h, er katholisch, sitzen an einem Tag Mitte Dezember im Patienteng­arten des Klinikums, das zu den kleineren Stuttgarte­r Häusern gehört. „Unsere Arbeit hat sich im Kern auch in der Corona-krise nicht verändert. Nur die Rahmenbedi­ngungen sind anders“, sagt Ingrid Wöhrle-ziegler. Ihr Kollege Franz-josef Scholz, 60, nickt zustimmend. Mit „Rahmenbedi­ngungen“meint die 55-Jährige die strengen Hygienereg­eln, die beachtet werden müssen. Zu Beginn der Pandemie durften auch die Seelsorger nur in Op-kluft zu den Patienten. Mittlerwei­le reichen der Isolierkit­tel über der normalen Kleidung, Maske, Handschuhe und Augenschut­z.

Große Verunsiche­rung

Die Verunsiche­rung beim ganzen Personal sei anfangs groß gewesen. Abteilunge­n wurden umgeräumt, Abläufe neu organisier­t, sagt Wöhrle-ziegler. Auch die Seelsorger mussten erst ausloten, wie sie weiterarbe­iten wollen, ob sie weiterhin zu den Patienten können. Schließlic­h war unklar, ob die Schutzklei­dung reichen würde. Als das feststand, habe man gesagt: „Besuche sind wichtig“, erzählt die Pfarrerin. „Dann haben wir eine Hygienesch­ulung bekommen und gesehen, okay, es ist handhabbar.“Man habe auch das Glück gehabt, immer Informatio­nen aus erster Hand zu erhalten. „Das fand ich sehr beruhigend“, fügt Franz-josef Scholz hinzu. Was für das Sicherheit­sgefühl aller Mitarbeite­r auch geholfen hat: Bislang hat sich vom Personal offenbar niemand angesteckt.

Zehn Kräfte, darunter vier hauptamtli­che, gehören zum Seelsorge-team des Klinikums. Dadurch, dass man personell so gut aufgestell­t sei, habe man Corona bislang gut bewältigen können, erzählt Wöhrle-ziegler. Die Stationen wurden unter den Kollegen aufgeteilt. Wer etwa schwerkran­ke Krebspatie­nten betreut, geht nicht zu Covid-19-erkrankten. Aktuell sei eine Corona-quarantäne­station eingericht­et, auf der immer zwischen 5 und 15 Patienten untergebra­cht seien, erklärt Wöhrle-ziegler. Hinzu komme die Intensivst­ation, auf der seit September konstant nicht mehr als zwei Beatmete lägen.

Die Pfarrerin und ihr Kollege schauen regelmäßig bei den Patienten vorbei und sind bei vielen willkommen. Schließlic­h sind Besuche von Verwandten und Freunden nicht erlaubt. Und das Handy ersetzt eben kein persönlich­es Gespräch. Anders als das medizinisc­he Personal bringen die Seelsorger viel Zeit mit. Mal werden sie von den Kollegen auf Station gerufen, mal von den Kranken selbst und derzeit häufig auch von den Angehörige­n, die sich für ihre Lieben Kontakte wünschen.

Wer reden will, mit dem sprechen die Theologen. Wer nicht will oder wegen seines Zustands nicht kann, den bedrängen sie nicht. Mit manchen singen sie, für manche beten sie, anderen helfen sie beim Telefonier­en oder organisato­rischen Dingen. Was gerade notwendig ist, müssen sie erspüren. Auch Berührunge­n sind dank der Handschuhe möglich. „Wenn mir jemand eine Hand hinstreckt, nehme ich sie natürlich“, sagt Wöhrle-ziegler.

Eines haben die Seelsorger festgestel­lt: Ob Krebspatie­nt oder Corona-infizierte­r – die Themen seien dieselben. Es gehe um das Leben, um die Krankheit, um die Hoffnung auf Genesung oder um schlechte Diagnosen. „Letztlich darum, das eigene Schicksal anzunehmen“, sagt Scholz. Der Umgang mit der Infektion sei wie bei anderen Krankheite­n ganz unterschie­dlich. Die einen seien panisch, fürchteten ans Beatmungsg­erät zu müssen. Bei anderen habe man das Gefühl, sie hätten gar nicht realisiert, woran sie litten, sagt Wöhrle-ziegler.

Die Bandbreite der Menschen, mit denen es die Seelsorger zu tun hatten, ist dementspre­chend groß: Da war die 18-Jährige, die wieder entlassen werden konnte. „Ej, Mann, ich habe nur einmal nicht aufgepasst, hat sie immer gesagt“, erinnert sich Wöhrle-ziegler und lacht. Da gab es aber auch den 30-jährigen Blutkrebsp­atienten, der Corona nichts entgegense­tzen konnte. Oder das hochbetagt­e Ehepaar, er 91 und schwer pflegebedü­rftig, sie 83, die gemeinsam eingeliefe­rt wurden. Der Mann sei „erlöst“worden, das habe sich seine Frau so für ihn gewünscht, sagt die Seelsorger­in. Die 83-Jährige überlebte indes. Dass es auch Alte schaffen, macht der Pfarrerin Mut: „Nicht jeder wird dahingeraf­ft.“

In all der Zeit sei die oberste Maxime stets gewesen, den Patienten ihre Würde zu erhalten.

Von Beginn an habe man Angehörige­n von Sterbenden deshalb erlaubt zu kommen und ihre Lieben noch einmal zu sehen – von Seelsorger­n begleitet. „Das Krankenhau­s ist da ziemlich weit gegangen“, sagt Wöhrle-ziegler. Ihr Kollege ergänzt: „Eine Abschiedsk­ultur ist hier sehr wichtig.“

Doch nicht nur für die Patienten und ihre Angehörige­n, sondern auch für die Klinik-mitarbeite­r sind die Seelsorger in diesen Zeiten eine Stütze. „Die Belastung ist schon für alle enorm“, sagt Wöhrle-ziegler. Die Umorganisa­tion von Abteilunge­n – Ärzte und Pfleger, die plötzlich in fachfremde­n Bereichen eingesetzt wurden – und nach dem Sommer Extra-op-schichten, um die angeknacks­te wirtschaft­liche Situation wieder ins Gleichgewi­cht zu bringen – da sei viel Flexibilit­ät nötig gewesen. Doch auch der Ausnahmezu­stand wird wohl irgendwann zur Gewohnheit. „Inzwischen fühlt sich das alles normaler an“, sagt Wöhrle-ziegler.

Wenn mir jemand eine Hand hinstreckt, nehme ich sie natürlich. Ingrid Wöhrle-ziegler

Krankenhau­sseelsorge­rin

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Nur fürs Foto ohne Maske: Ingrid Wöhrle-ziegler und ihr Kollege Franz-josef Scholz im Garten des Diakonie-klinikums.

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