Stille heilige Nacht?
In den Kirchen ist die Weihnachtszeit alle Jahre wieder die besucherstärkste Zeit des Jahres. Das wird heuer anders sein. Sontheims Pfarrer Steffen Palmer spricht darüber.
Wegen Corona läuft dieses Jahr nichts wie sonst. Volle Kirchenbänke und gemeinsames Singen - das wird es dieses Weihnachten nicht geben. Ist es richtig, dass Gottesdienste trotz des Lockdowns stattfinden? Wie kann die Kirche derzeit trösten? Lässt sich die Pandemie theologisch deuten? Der evangelische Pfarrer Steffen Palmer gibt Antworten.
Herr Palmer, trotz des bundesweiten Lockdowns ist den Kirchen das Feiern von Gottesdiensten nicht untersagt worden. Ich nehme an, Sie finden das richtig?
Als Pfarrer finde ich das richtig, ja.
Aber ein Risiko bleibt.
Ein Risiko bleibt natürlich immer. Ich denke, wir haben das bestmögliche Hygieneschutzkonzept erarbeitet und uns viele Gedanken gemacht, wie wir das Infektionsrisiko möglichst minimieren können. Ich halte Gottesdienste deshalb für verantwortbar. Und ob man daran teilnimmt, kann ja jeder in aller Freiheit selbst entscheiden
Wie sieht das Hygienekonzept genau aus?
Es gibt ganz klare Vorgaben aus Stuttgart. Angefangen von den Abstandsregeln, der Maskenpflicht während des kompletten Gottesdienstes und das generelle Singverbot, um Aerosole zu vermeiden. Außerdem haben wir eine eigene Lüft- und Heizordnung bekommen und es stehen Desinfektionsspender bereit. Dazu kommt, dass wir uns in relativ großen Gebäuden befinden. Und da gibt es nun mal sehr viel Luft. Wir feiern seit einigen Monaten Gottesdienste unter diesen Bedingungen und haben einiges an Erfahrung gesammelt.
Allerdings kam es auch in Kirchen zu Ansteckungen.
Vereinzelt im Frühjahr, ja. Da wussten wir aber noch wenig über die Pandemie. In den letzten Monaten wäre mir nicht bekannt, dass es in den Landeskirchen zu Ansteckungen kam.
Spontan fallen mir aber mehrere Fälle in Freikirchen ein.
Die hatten eventuell andere Vorgaben als wir. Die einen empfinden ein klassisches Konzert erbaulich, die anderen einen Gottesdienst. Warum soll ausgerechnet für Kirchen eine Ausnahme gemacht werden?
Ich denke, wir haben in dieser Zeit alles nötig, was der Seele guttut. Unsere Seele braucht das und ich glaube, das Gute kann man in einem Gottesdienst finden. Aber warum ein Gottesdienst stattfinden darf und andere kulturelle Veranstaltungen nicht, diese Frage habe ich mir selbst schon gestellt. Auch Konzerte, Theater und Filme tun der Seele gut. Dass gerade Gottesdienste erlaubt sind, liegt wahrscheinlich daran, dass die Glaubensfreiheit in Deutschland ein sehr hohes Gut ist, und speziell zu Weihnachten. Wir haben das Fest quasi erfunden. Deshalb ist es eine gute Sache, wenn ein christliches Fest mit einem christlichen Gottesdienst gefeiert werden kann.
In einem Choral von Martin Luther heißt es: „Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen.“Das gilt für die aktuelle Zeit mit steigenden Todeszahlen wohl mehr denn je. Gibt es an der jetzigen Situation etwas Tröstliches?
Wie gesagt, ich halte alles für tröstlich, was der Seele guttut. Das kann hoffentlich ein Gottesdienst sein. Aber auch Musik, ein nettes Wort am Telefon, eine handgeschriebene Karte. Am Tröstlichsten ist natürlich Nähe. Und das ist im Moment schwierig. Es ist die Herausforderung dieser Zeit, Möglichkeiten zu finden, wie man sich nahe sein kann, ohne sich körperlich nahe zu kommen.
Ich dachte, Sie nennen auch die Geburt Jesu und die Weihnachtsgeschichte.
Die Botschaft von Weihnachten ist: Gott ist uns nah. Ich finde es enorm tröstlich, dass wir einen Gott haben, der keinen Abstand und keine Distanz zu uns hält. Und er ruft uns dazu auf, uns auch gegenseitig nahe zu kommen. Gott kommt zu uns und liebt uns. Und deshalb sollen wir die Liebe auch zu anderen bringen.
Sind in den vergangenen Monaten viele besorgte Menschen an Sie als Seelsorger herangetreten?
Meistens, wenn ich den Kontakt aufgenommen habe. Dann habe ich oft gehört, dass sich die Menschen sorgen. Aber ich habe umgekehrt auch viele Leute getroffen, vor allem Senioren, die gesagt haben: „Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden.“Aber wenn man im Dorf unterwegs ist, bekommt man natürlich mit, dass viele wirtschaftliche Sorgen haben oder auch, dass manche Senioren einsam sind.
Das ist also auch ein großes Thema auf dem Land?
Natürlich. Mein Eindruck ist zwar, dass die Menschen gut versorgt sind, aber man braucht eben mehr als Essen und Trinken. Man braucht Gesellschaft, man braucht Menschen, mit denen man reden kann. Und das ist im Moment schwieriger als sonst.
Spielte der Glaube in diesem Jahr eine größere Rolle als 2019?
Gute Frage. Manche Menschen besinnen sich gerade in Krisenzeiten auf ihren Glauben. Denn die Botschaft ist ja nicht, dass immer alles gut sein wird. Sondern dass Gott in schweren Zeiten mit einem geht und einem die Kraft dafür gibt.
Kommen auch Gläubige auf Sie zu, die eine theologische Deutung der Pandemie wollen?
Das ist mir bis jetzt noch nicht passiert. Früher hätten die Kirchen Corona als Strafe Gottes gedeutet.
Bloß nicht. Ich glaube an den liebenden Gott, der das Gute will. Dass er uns Katastrophen schickt, um uns zur Umkehr zu bewegen, das ist absolut nicht meine Vorstellung. Aber wenn Sie mich fragen, wo Gottes Hilfe zur Beendigung dieser Pandemie ist – nun, diese Frage stelle ich mir selbst auch.
Sind die Kirchen allgemein nicht zu still während der Pandemie?
Ich glaube, dass vor Ort sehr viel Gutes und Kreatives geschehen ist. Viele Kirchengemeinden sind ganz neue Wege gegangen mit Digitalisierung und neuen Gottesdienstformaten. Aber dass von „der Kirche“, also vonseiten der Kirchenleitung, mehr öffentliche Worte erwartet wurden, das habe ich auch gehört und wahrgenommen.
Wie viele Menschen sind in normalen Jahren an Heiligabend bei Ihnen in der Kirche?
In Sontheim haben wir zwei Gottesdienste, wo zusammen etwa 600 Leute teilnehmen.
Und wie viele dürfen es dieses Jahr maximal sein?
Wir haben aus zwei Gottesdiensten drei gemacht und dafür haben sich knapp 300 Personen angemeldet.
Rechnen Sie damit, dass alle kommen? Oder halten Sie es für möglich, dass Sie heute zum ersten Mal an Heiligabend in eine leere Kirche blicken?
Das Anmeldeverfahren lief gut drei Wochen und ist seit dem 17. Dezember beendet. Seitdem habe ich ein gutes halbes Dutzend Stornierungen, aber auch fünf Nachmeldungen erhalten. Ich denke, unsere Informationspolitik war sehr gut. Jeder hat etwa schon frühzeitig eine Sitzordnung erhalten und weiß genau, wo er sitzen wird. So kann man ganz entspannt zur Kirche kommen, ohne Gedränge.
Ist es für Sie persönlich enttäuschend, dass Sie heute nur 300 und nicht 600 Menschen mit Ihrer Predigt erreichen?
Ganz und gar nicht. Ich freue mich über jeden, der kommt. Aber ich habe auch Verständnis für jeden, der nicht teilnehmen will.
Worum wird es in Ihrer heutigen Predigt gehen?
Um Nähe und Distanz. Die Weihnachtsbotschaft ist ja: Gott kommt uns nah. Und wir sollten jetzt auch die Form von Nähe zueinander finden und haben, die im Moment möglich und sinnvoll ist. Tatsächlich bin ich auch etwas stolz auf unser Land, weil in den vergangenen Monaten so viele gute Formen des Miteinanders und der Solidarität gewachsen sind.
Wobei es auch Gegenbeispiele und Spaltung gibt.
Natürlich. Es gibt leider auch spaltende Stimmen, die ziemlich laut sind.
Was möchten Sie Menschen sagen, die heute Abend nicht nur allein, sondern einsam sind?
Ruft an.
Ruft an?
Ja, ruft an. Die Kirche ist insbesondere auch in solchen Situationen und an Heiligabend da. Und zwar gern. Ich kann derzeit niemanden einladen, aber ich kann zumindest ein Gespräch anbieten.
Sie sind an Heiligabend telefonisch erreichbar?
Selbstverständlich. Im Übrigen bin ich selbst auch Junggeselle. Was andere Alleinstehende betrifft, betrifft mich auch. Auch für mich werden der Heiligabend und die Feiertage ganz anders als sonst.
Für diese Tage gibt es ja Lockerungen. Sind die gerechtfertigt, nur weil Weihnachten ist?
Ich glaube, dass die große Mehrheit der Deutschen so vernünftig ist, dass sie selbst entscheiden können, was im Moment sinnvoll ist und was nicht. Ich finde es gut, dass ein Freiraum geschaffen wurde, weil es eben ganz besondere Tage im Jahr sind. Aber man muss natürlich nicht alles, was erlaubt ist, auch tun.