Oberste Kassen-chefin warnt vor Kürzungen für Patienten
Doris Pfeiffer rechnet nach Corona und Reformen mit massivem Defizit. Sie tritt harten Einschnitten nach der Wahl entgegen.
Deutschlands oberste Krankenkassen-chefin warnt vor einem Spargesetz für Patienten nach der Bundestagswahl. „Man kann sicher sein, dass die Finanzlage der Kassen spätestens nach der Wahl auf den Tisch kommen wird“, sagte die Vorsitzende des Gkv-spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, in einem Interview dieser Zeitung. „Auch früher gab es (...) Vorschaltgesetze, wo dann in einer Hauruck-aktion das Geld eingesammelt werden sollte.“Die hohen Ausgaben, die die Kassen belasteten seien vom Gesetzgeber gewollt, „und sie bleiben und zwar nicht nur wegen Corona“.
Nach Berechnungen des Aok-bundesverbandes kommen 2021 und 2022 etwa 20 Milliarden Euro an zusätzlichen Ausgaben auf die Kassen zu. Kurz vor Weihnachten beschlossen Bundestag und Bundesrat ein Notfallpaket, um das etwa 18 Milliarden Euro große Finanzloch für das kommende Jahr zu stopfen. Wie es danach weiter gehen wird, ist offen.
Pfeiffer warnte die Politik davor, die Löcher zu stopfen indem sie Leistungen für Patienten und Versicherte kürzt oder zusätzliche Gebühren verlangt. „Leistungskürzungen oder höhere Zuzahlungen sind für uns nicht das Mittel der Wahl“, betonte sie. „Wir müssen uns anschauen, wie man die Versorgung effizienter und effektiver gestalten kann und zwar im Sinne der Versicherten.“
Von den zusätzlichen Ausgaben in Milliardenhöhe, die die große Koalition beschlossen habe, profitierten die Patienten nicht. „Schön wär’s!“, sagte Pfeiffer. Jedoch käme das Geld nicht bei den Versicherten an, sondern gehe auf das Konto der Leistungserbringer, also Ärzte, Apotheker oder Kliniken.
Was die Entwicklung der Corona-pandemie angeht, zeigte sich die Vorsitzende des Spitzenverbandes der Krankenkassen auf kurze Sicht nur wenig zuversichtlich. Der gemeinsame Impfstart in Europa sei ein Signal der Hoffnung. „Aber wirklich beruhigt kann ich angesichts der vollen Intensivstationen, der vielen Toten und Schwerkranken nicht sein.“
Corona setzt das Gesundheitssystem unter Stress. Doch auch die Reformpolitik von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sorgt für hohe Ausgaben. Die Chefin des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Doris Pfeiffer, warnt vor scharfen Einschnitten nach der Bundestagswahl.
In ganz Europa wird nun gegen Corona geimpft. Gehen Sie beruhigt in das neue Jahr?
Doris Pfeiffer:
Der gemeinsame Impfstart in Europa ist ein Signal der Hoffnung und stimmt mich froh, dass wir die Pandemie im Laufe des kommenden Jahres besiegen können. Aber wirklich beruhigt kann ich angesichts der vollen Intensivstationen, der vielen Toten und Schwerkranken nicht sein.
Der Shutdown zeigt Wirkung, aber noch immer sind die Krankenhäuser voll und die Todeszahlen hoch. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Das solidarische Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland ist mitten in seiner größten Prüfung. Ich bin sehr froh, dass wir über eine so robuste und leistungsfähige Gesundheitsversorgung verfügen.
Haben die Kassen genug Geld, um die Krise zu finanzieren?
Zum Beginn der Pandemie haben wir das Versprechen gegeben, alles, was medizinisch notwendig ist, zu finanzieren. Das ist gelungen. Einen wichtigen Beitrag hat aber auch der Bund geleistet, weil er den Krankenhäusern den Leerstand in der ersten Phase der Corona-welle finanziert hat. Und es gab auch Entlastungen, weil zum Beispiel viele planbare Operationen abgesagt wurden. Da haben sich vielfach Mehr- und Minderausgaben ausgeglichen. Das Defizit von 1,7 Milliarden Euro bis Ende September ist darauf zurückzuführen, dass die Kassen ihre Reserven abbauen mussten und dazu etwa ihren Zusatzbeitragssatz nicht erhöht haben. Das ist kein Grund, für dieses Jahr Alarm zu schlagen.
Wie sieht es für das kommende Jahr aus?
Der Schätzerkreis hat die voraussichtlichen Einnahmen bereits berechnet, in dieser Höhe bekommen die Krankenkassen auf jeden Fall das Geld aus dem Gesundheitsfonds. Falls die Einnahmen des Fonds nicht reichen, müsste der Bund einspringen. Da droht den Kassen also nichts. Allerdings wurde trotz der Sozialgarantie beschlossen, dass von den auf der Einnahmeseite fehlenden 16 Milliarden Euro der größte Teil von den Beitragszahlern finanziert werden muss. Etwa drei Milliarden Euro durch Beitragserhöhungen, acht Milliarden Euro aus den Rücklagen einzelner Kassen und fünf Milliarden Euro durch einen einmalig höheren Bundeszuschuss.
Sie hatten auf eine andere Aufteilung gedrängt?
Das ist richtig. Der Bundeszuschuss hätte aus unserer Sicht höher ausfallen müssen. So werden von den notwendigen 16 Milliarden Euro, 11 Milliarden Euro aus Beitragsgeldern finanziert. Denn bei den Reserven handelt es sich ja auch um Gelder der Beitragszahler. Ich halte es zudem für fragwürdig, die Reserven so gefährlich weit herunterzufahren. Es ist keine Strategie für die Zukunft, dauerhaft höhere Ausgaben durch einmalige Zuschüsse und das Auflösen von Rücklagen zu finanzieren.
Was heißt das für den Wettbewerb zwischen den Kassen?
Die Kassen, die gut gewirtschaftet haben, müssen jetzt ihre Reserven sozialisieren. Das hat natürlich den Effekt, dass die Kassen künftig genau überlegen müssen, ob sie so sparsam agieren, dass Reserven übrigbleiben.
Was hätte das für Folgen?
Das wird man 2021 nach der Bundestagswahl sehen. Die Reserven der Kassen sind dann aufgebraucht, und auch die Lage im Bundeshaushalt dürfte alles andere als rosig aussehen.
Sollte das nicht zum Thema des Wahlkampfs werden?
Nun, ich weiß nicht, wer im Wahlkampf darüber sprechen will. Es ist ja kein angenehmes Thema. Aber man kann sicher sein, dass die Finanzlage der Kassen spätestens nach der Wahl auf den Tisch kommen wird. Auch früher gab es nach Bundestagswahlen Vorschaltgesetze, wo dann in einer Hauruck-aktion das Geld eingesammelt werden sollte. Die hohen Ausgaben sind ja vom Gesetzgeber gewollt, und sie bleiben und zwar nicht nur wegen Corona.
Nach der Wahl wird die Finanzlage der Kassen auf den Tisch kommen.
Die Ausgaben kommen doch den Versicherten zu Gute…
Schön wär’s! Die zusätzlichen Ausgaben kommen zumeist nicht bei den Versicherten an, sondern gehen auf das Konto der Leistungserbringer, also Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser und so weiter.
Kommt es womöglich zu Leistungskürzungen?
Das hoffe ich nicht. Leistungskürzungen oder höhere Zuzahlungen sind für uns nicht das Mittel der Wahl. Wir müssen uns anschauen, wie man die Versorgung effizienter und effektiver gestalten kann und zwar im Sinne der Versicherten.
Warum überweist der Bund denn nicht ganz einfach dauerhaft mehr Geld?
Der Bund muss zahlen, aber für festgeschriebene und nachvollziehbare Ausgaben, die nicht Aufgabe der Krankenversicherung sind. Infektionsschutz, also Ausgaben für Massentests zum Beispiel, ist eine klassische Aufgabe des Bundes, weil es der gesamten Bevölkerung zu Gute kommt. Oder etwa die Beitragsfreiheit in der Elternzeit, das ist eine familienpolitische Maßnahme. Solche versicherungsfremden Leistungen müssen aus Steuergeldern finanziert werden, damit auch Beamte und Selbstständige einen Anteil daran haben. Zurzeit sind das im Jahr 14,5 Milliarden Euro.
Wo fehlt es derzeit?
Die Ausstattung der Gesundheitsämter ist katastrophal. Diese Einrichtungen sind in den vergangenen Jahrzehnten massiv zusammengespart worden. Das kritisieren wir schon seit Ewigkeiten und Corona hat den Ländern nun die Quittung dafür präsentiert. Was viel wichtiger ist als die App: die technische und die personelle Ausstattung der Gesundheitsämter muss stimmen.