„Die EU kompromittiert ihre Grundprinzipien“ Renommierter Autor und Politikwissenschaftler
Jan-werner Müller Ungarn und Polen kassieren Geld, ohne sich an Regeln zu halten, sagt der Demokratie-experte. Ein Gespräch über Trumpschen Populismus, eine wirkungslose Europäische Union und die Sorge über zu viele Vollmachten für die Exekutive.
Dass mit Jan-werner Müller im Sommer ein international renommierter Demokratie-experte für ein Jahr ins Berliner Wissenschaftskolleg eingezogen ist, wurde der Rektorin des Refugiums für 40 Forscher aus aller Welt, Barbara Stollberg-rilinger, bald klar: „So viele Fernsehteams hatten wir hier noch nie im Haus.“Die Historikerin nennt Müller denn auch einen „transatlantischen Meistererzähler, der uns Amerika und den Trumpismus zu erklären versucht“, ein Phänomen, das auch nach der Abwahl des Präsidenten nicht von heute auf morgen verschwinden dürfte. Mit dem zweiten Lockdown gelten auch im Wissenschaftskolleg wieder strenge Regeln: Das Gespräch führten wir auf Abstand und mit Mund-nasen-masken.
Herr Professor Müller, auch nach der Wahl ist Donald Trump für große Teile der republikanischen Basis und der Bevölkerung eine Art Sektenführer. Seine Anhänger glauben, er sage die Wahrheit, selbst wenn es objektiv widerlegbar ist. Wie befreit man Menschen aus so einer Gedankenwelt?
Zum einen sollte man über ganz konkrete Fragen sprechen, über Abtreibung, Einwanderung, Klimaschutz. Da darf man in einer Demokratie unterschiedlicher Ansicht sein. Das Problem in den USA ist, dass sich Trumps Anhänger sofort auf die Position zurückziehen: Ihr hasst uns ja alle, wir sind immer die Opfer. Da wird eine Diskussion fast unmöglich.
Wie kann es trotzdem gelingen, miteinander ins Gespräch zu kommen?
Auch indem man über lokale Probleme redet. Die sind nicht gleich von dem Kulturkampf überschattet, der nationale Debatten beherrscht. Allerdings haben Millionen von Amerikanern keine Lokalzeitung mehr, andere, von Parteien finanzierte Blätter sind Propaganda, aber nicht immer also solche kenntlich.
Was sind die Folgen?
Auf der rechten Seite hat sich eine Blase gebildet, in der sich 30 bis 40 Prozent der Amerikaner befinden, die – meist im Fernsehen – auf einseitige Weise informiert werden. Diese Verkapselung in einem geschlossenen Weltbild hat schon vor Jahrzehnten begonnen und nicht nur etwas mit den sozialen Medien zu tun.
In Deutschland versucht es die AFD mit einer ähnlichen Strategie: Wir, das Volk, gegen die „linksgrünversifften Altparteien“. Wie löst man diese Spaltung auf?
Dass es Konflikte in der Demokratie gibt, ist nicht verboten. Das Problem beginnt mit der Position: Die andere Seite ist grundsätzlich illegitim, das sind Volksverräter, die uns unser Land wegnehmen wollen.
Erkennen Sie Parallelen zwischen den Us-republikanern und der AFD?
Inhaltlich gibt es eine Reihe von Überschneidungen. Allerdings ist bisher bei der AFD keine langfristige Strategie hin zum plutokratischen Populismus erkennbar, wie ihn die Republikaner seit Jahrzehnten praktizieren. Also konkret das Zusammenspiel aus extrem reaktionären steuer- und wirtschaftspolitischen Forderungen und einem gnadenlosen Kulturkampf. Der größte Unterschied ist allerdings: Rechtsaußen-positionen sind in Deutschland noch nicht von opportunistischen Mitte-rechts-politikern zum Mainstream gemacht worden.
Was lernen wir in Europa und Deutschland aus den Verheerungen, die Trump in der liberalen Demokratie angerichtet hat? Sind wir immun gegen solche zerstörerischen Kräfte?
Immun sicher nicht. Daher sollte man das eigene System auf Schwächen abklopfen. Also beispielsweise fragen: Könnte es bei uns auch passieren – wie in Polen –, dass demokratische Grundlagen zerstört werden auch ohne verfassungsändernde Mehrheit? Außerdem werden auch in Europa Rechtspopulisten immer erfolgreicher in ihrem Bemühen, Gegenöffentlichkeiten aufzubauen, gerade auch im Internet. Dagegen sollte man sich wehren.
Ist die Demokratie zu schwerfällig in Krisenzeiten? Autokratien wie Singapur oder Zentralstaaten wie China sind offenbar erfolgreicher bei der Bekämpfung der Corona-pandemie.
Ich maße mir kein Urteil über die Anti-corona-strategie aller möglichen Länder an. Richtig aber ist, dass nach 1989 einige die Illusion hegten, Demokratie sei das einzige System, das aus Fehlern lernt, alle anderen enden unweigerlich wie die Sowjetunion. Deshalb hat man die neuen Autokraten unterschätzt. Daraus aber lässt sich nicht folgern, dass Regime, die ihren Bürgern weniger Freiheiten gewähren, schneller, entschlossener und erfolgreicher in Krisenzeiten seien. Und was den Zentralismus betrifft: Auch in den USA hat man angesichts Trumps autokratischen Gebarens und in der Pandemie, aber auch beim Klimaschutz, den Föderalismus zu schätzen gelernt. Da konnte der Gouverneur von Kalifornien sagen: Was Trump sagt, mache ich nicht.
Ein Hinweis auf die Vorzüge des deutschen Föderalismus?
Bei allen Schwierigkeiten, die dieses System in der Praxis macht, haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes etwas dabei gedacht, eine mögliche Bremse gegenüber antidemokratischen Akteuren einzubauen. Es ist kein Zufall, dass Länder mit einer stark zentralistischen Verfassung wie Ungarn oder die Türkei zu Autokratien geworden sind.
Die Polarisierung zwischen liberalen Städten und konservativer Landbevölkerung wird immer größer, in Polen und den USA wird das besonders deutlich. Lässt sich diese Kluft überwinden?
Ja, durch Strukturhilfen. Was man dabei aber vermeiden sollte: sich auf einen Kulturkampf einzulassen, den manche Akteure nur zu gerne forcieren wollen. Es lassen sich nicht alle Probleme auf den ökonomischen Aspekt reduzieren – aber wir diskutieren viel zu wenig darüber.
Die Kritik an der deutschen Krisenpolitik richtet sich nicht nur bei Corona-leugnern oder Verschwörungstheoretikern vor allem auf die Einschränkung individueller Freiheitsrechte und die Dominanz der Exekutive. Sehen Sie da Gefahren für die Demokratie?
Vollmachten, die sich eine Exekutive in einer Ausnahmesituation aneignet, werden selten wieder ganz rückgängig gemacht. Darauf muss man ein wachsames Auge haben. Je länger solche Notfälle andauern, desto höher sollten die Hürden für parlamentarische Mehrheiten gesetzt werden, um es der Exekutive strukturell immer schwerer zu machen, sich besondere Befugnisse zu sichern. Wenn ein Notfall wirklich offensichtlich so schlimm ist, werden sich ja trotzdem Mehrheiten finden.
Populismus, sagt der französische Historiker Pierre Rosanvallon, ist weder Irrweg noch Abart der Demokratie, sondern eine seit Jahrhunderten immer wieder auftretende Ausprägung in der demokratischen Entwicklungsgeschichte, die auf Mängel des Systems hinweist. Was lernen wir daraus?
Es gibt Akteure, die wir heute klar als Populisten erkennen, die aber im Anfangsstadium ihrer Karriere reale Probleme angesprochen haben. Was Erdogan zum Beispiel über eine kemalistische Elite gesagt hat, die sich von den Sorgen der Bevölkerung entkoppelt hat, war ja nicht völlig falsch. Venezuela war kein wunderbar egalitäres Land, bevor Hugo Chavez alles kaputt gemacht hat. Das entschuldigt nicht, dass diese Menschen zu Autokraten geworden sind. Aber ihr Aufstieg hat eine Geschichte, die es zu reflektieren gilt.
Polen und Ungarn gehen seit Jahren den Sonderweg der „gelenkten“Demokratie. Wie sollte die EU darauf reagieren?
Die Europäische Union funktioniert nur, wenn sich die Institutionen in den Nationalstaaten auch gegenseitig vertrauen können. Das ist in Bezug auf die Justiz nicht mehr durchgehend der Fall. Da muss man keine Sonntagsreden über Werte halten, es geht ums praktische Funktionieren der Union. Im Moment sind Ungarn und Polen im Grunde gleichzeitig drinnen und draußen, kassieren Geld, ohne sich an Regeln zu halten. Schöner geht es für sie ja gar nicht. Hier versagen Frau Merkel wie die Kommission mit ihrer schwachen Präsidentin von der Leyen. Die EU kompromittiert sowohl ihre Grundprinzipien als auch ihr praktisches Funktionieren.
Hat die EU den fundamentalen Konstruktionsfehler, dass man einen Mitgliedsstaat nicht rauswerfen kann?
Eine Föderation braucht entweder die Möglichkeit zu intervenieren – wie das in den USA mit den Südstaaten der Fall war –, oder die Möglichkeit, dass ein Land austreten muss. Die EU hat keines von beiden. Aber: Der beste Mechanismus ist auch wirkungslos, solange der politische Wille fehlt.
Wagen wir zum Schluss dieses Jahres noch einen Ausblick auf 2021, ein Superwahljahr mit Bundestagswahl und sechs Landtagswahlen. Wird sich das liberale Demokratiekonzept von den Rückschlägen erholen?
Wenn Sie mit Rückschlägen vor allem die Erfolge von Rechtspopulisten meinen, dann weise ich darauf hin, dass diese, anders als das Bild der vermeintlich unaufhaltsamen globalen Welle es suggeriert, nie ohne die Kollaboration von etablierten konservativen Eliten siegen.
Was meinen Sie damit genau?
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Mehrheiten die Demokratie abschaffen möchten. Aber es gibt Eliten, welche bei autokratischen Tendenzen – siehe Trump – beide Augen zudrücken. Eine Analyse von Schwachstellen im System ist richtig, aber man sollte nicht den Fehler machen und von einer Dynamik ausgehen, welche die liberale Demokratie in die Defensive drängen oder gar zerstören würde. Bisher ist weder in Westeuropa noch in Nordamerika eine rechtspopulistische Partei an die Macht gekommen, die nicht die Unterstützung des konservativen Mainstreams und der Eliten hatte. Aus eigener Kraft haben sie es nie geschafft.
(50), in Bad Honnef geboren, lehrt als Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der amerikanischen Universität Princeton (New Jersey). Seine Bücher werden auch ins Japanische und Chinesische übersetzt. Zuletzt erschienen: „Was ist Populismus?“und „Furcht und Freiheit“(beide Suhrkamp). Derzeit arbeitet der Rheinländer an seiner nächsten Veröffentlichung, die im Mai 2021 herauskommt: „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schaffen wir Demokratie?“
Akteure, die wir heute klar als Populisten erkennen, haben am Anfang ihrer Karriere reale Probleme angesprochen.