Heidenheimer Neue Presse

Bratwurst als Seelentrös­ter

Im Dezember 1960 ist der Heidenheim­er Christkind­lesmarkt auch nicht mehr das, was er mal war. Etliche weitere Ereignisse geben Anlass zur Sorge. Ein Blick ins Archiv der HZ.

- Von Michael Brendel

Pfennig für einen kleinen Schokolade­n-nikolaus. Ein Heidenheim­er Warenhaus lässt sich die Saisonware im Dezember 1960 gut bezahlen. Dafür kommt diese „bunt stanniolie­rt“in schicker Verpackung daher.

Und als Seelentrös­ter taugt sie in den letzten Tagen des sich seinem Ende zuneigende­n Jahres allemal, bleiben auf dem Christkind­lesmarkt in der Innenstadt jedoch Wünsche unerfüllt. Die Heidenheim­er Zeitung schwärmt zwar zunächst: „Der Winter hauchte seinen Atem in unsere Stadt.“Aber postwenden­d verleiht der Berichters­tatter seiner Überraschu­ng darüber Ausdruck, dass kein vorweihnac­htlicher Zauber zu erkennen sei. Rote Zipfelmütz­en gehören nicht zu Weihnachts­männern, sondern dienen Gartenzwer­gen als Accessoire­s, die es an einer Losbude zu gewinnen gibt.

Noch etwas ist anders als sonst: In den öffentlich­en Handel gelangen fast keine Weihnachts­bäume aus den Wäldern rings um Heidenheim. „Wir sind froh, wenn uns auf dem kargen Boden die Fichten gedeihen“, erklärt Forstmeist­er Schröter, weshalb lediglich die Betriebsan­gehörigen zum Zuge kommen.

Weil zu erwarten ist, dass sich der eine oder andere deshalb im Schutz der Dunkelheit mit Axt und Säge auf die Suche nach seinem persönlich­en und obendrein unschlagba­r günstigen Exemplar macht, lässt Schröter Sicherheit­sstreifen durch die Jungtannen­bestände patrouilli­eren.

Gerüche als Diebstahls­chutz

Und er packt die chemische Keule aus: Die Präparieru­ng mit einer unsichtbar­en Flüssigkei­t soll dafür sorgen, dass ein nicht auszuhalte­nder Gestank die geheizten Wohnstuben der Baumdiebe durchzieht.

Weitaus schlimmer ist freilich, was sich in der Nacht zum 2. Dezember an der Griesstraß­e ereignet. Um 1.57 Uhr reißt eine gewaltige Explosion die Menschen im Westen der Stadt aus dem Schlaf. Die Polizei geht rasch davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt eine unheilvoll­e Begegnung zwischen dem Induktions­funken eines sich automatisc­h einschalte­nden Kühlschran­ks und einem offenstehe­nden Gashahn gibt. Die Außenwände des Obergescho­sses stürzen teilweise ein, eine Frau findet in dem Wohngebäud­e den Tod.

Auf den Straßen ist die Polizei derweil im Dauereinsa­tz. Am Vormittag des 10. Dezember ereignen sich im Stadtgebie­t nach einem plötzliche­n Wintereinb­ruch neun schwere Unfälle innerhalb von drei Stunden. Obwohl die Straßenmei­sterei binnen Kurzem 30 Zentner Salz auf den Fahrbahnen verteilt, kracht es im Halbstunde­ntakt.

Sechs Verletzte werden Krankenhau­s gebracht, vier ins davon nach einer Kollision auf der spiegelgla­tten B 19 bei Itzelberg. Verkehrsex­perten macht der Zustand der Bundesstra­ße zwischen Mergelstet­ten und Herbrechti­ngen besondere Sorgen.

Auch ohne Eis und Schnee lässt die Griffigkei­t der Oberfläche zu wünschen übrig. Messungen ergeben, dass vor allem ein rund 200 Meter langes Teilstück entlang des Zementwerk­s Schwenk unzureiche­nde Reibewerte aufweist. Oberinspek­tor Neudert, Chef der Straßenmei­sterstelle, trägt deshalb mit seinem Trupp 600 Liter hochkonzen­trierte Salzsäure auf.

Salzsäure sorgt für Griffigkei­t

Laut HZ frisst sie sich zischend und brodelnd in die Betonschic­ht ein. Anschließe­nd wird die Straßenobe­rfläche kräftig mit Wasser abgespült, und „fühlte sich dann etwa so an, als würde man mit der Hand über Schmirgelp­apier streichen“.

Die Maßnahme soll dazu beitragen, das Verkehrsge­schehen im Landkreis etwas sicherer zu machen. 1960 sterben dort bei 1422 Unfällen 21 Menschen. Der gesamte Sachschade­n beträgt nahezu eine Million Mark.

Der Tod nähere sich mit zunehmende­r Geschwindi­gkeit, mahnt die Polizei und setzt deshalb auf eine schärfere Tempoüberw­achung.

Brennpunkt­e des Verkehrsge­schehens im Heidenheim­er Stadtgebie­t sind der Eugen-jaekle-platz, Haupt- und Wilhelmstr­aße sowie die B 19.

Absturz bei Weidenstet­ten

Unterdesse­n häufen sich Nachrichte­nmeldungen, die belegen, dass auch der Flugverkeh­r Risiken birgt. Am Abend des 17. November stürzt ein Hubschraub­er der Us-luftwaffe in ein abgelegene­s Waldstück bei Weidenstet­ten. Einziger Zeuge des Unglücks ist der Heidenheim­er Günther Greiner.

Allerdings ist er sich seiner Sache zunächst nicht sicher. Deshalb schildert er seine Beobachtun­gen – Motorenlär­m, eine Stichflamm­e, Aufschlags­geräusche und drei Detonation­en –, die er aus etwa fünf Kilometern Entfernung macht, erst zwei Tage später der Polizei, nachdem groß angelegte Suchaktion­en des amerikanis­chen Militärs erfolglos geblieben sind und deshalb die Öffentlich­keit um Mithilfe gebeten wird.

Stunden später wird das Wrack der „Bell H 13“entdeckt. Der Wald ringsum hat kaum Schaden genommen. Lediglich der abgeknickt­e Wipfel einer Buche und ein Birkenstam­m liegen am Boden. Der Pilot hat den Absturz nicht überlebt und sitzt noch angeschnal­lt auf seinem Sitz.

Bei der Suche nach der Unglücksur­sache verhören Us-militärs, die mit einem Hubschraub­er einfliegen und auf dem Vfl-platz in Heidenheim landen, Greiner ausgiebig. Stundenlan­g muss er seine Wahrnehmun­gen bis ins kleinste Detail schildern. Hauptkommi­ssar Bofinger nimmt ebenfalls an dem Gespräch teil und lobt die minutiösen Erinnerung­en Greiners.

Katastroph­e im Schneestur­m

Auch überregion­al machen Flugzeugka­tastrophen Schlagzeil­en: In einem Schneestur­m stoßen über New York zwei Passagierm­aschinen zusammen. 138 Menschen sterben, die Trümmer gehen über Staten Island und Brooklyn nieder.

49 Tote und 16 Verletzte sind eine Woche vor dem Heiligen Abend in München zu beklagen, wo eine kurz zuvor am Flughafen Riem gestartete Us-militärmas­chine die Türme der Paulskirch­e streift und unweit der Theresienw­iese zerschellt. Neben Passagiere­n sterben auch Fahrgäste einer Straßenbah­n und Passanten.

Und bei Moosburg im Landkreis Freising stürzt am zweiten Weihnachts­feiertag ein französisc­her Düsenjäger vom Typ „F 84“ in einen Hopfengart­en und explodiert. Der Pilot hat großes Glück und kann sich unverletzt mit dem Fallschirm retten.

Kurz vor dem Jahreswech­sel, viele freuen sich schon auf ein farbenpräc­htiges Feuerwerk, ordnet dann die französisc­he Regierung eine Atombomben­explosion in der Sahara an. Wenig beruhigend wirkt, dass das Unternehme­n „Rote Springmaus“Forschungs­zwecken dienen und aufgrund der geringen Sprengwirk­ung „schon in Tokio seismograf­isch nicht mehr wahrnehmba­r“sein soll.

Angesichts dieser Nachrichte­n geht beinahe unter, dass es auch Positives zu vermelden gibt. Aus der Warte eines 60 Jahre später die Nachrichte­n Verfolgend­en spielt sich in den Vereinten Staaten von Amerika Bemerkensw­ertes ab: Richard Nixon verliert bei den Präsidents­chaftswahl­en gegen John F. Kennedy, gesteht seine Niederlage ein und gratuliert seinem Amtsnachfo­lger.

Richtfest am Kirchen-neubau

Grund zur Freude gibt es auch in Heidenheim­s Westen: Knapp fünf Monate nach der Grundstein­legung feiert die katholisch­e Kirchengem­einde Richtfest am Rohbau der Dreifaltig­keitskirch­e. Stadtpfarr­er Richard Müller spricht angesichts der außergewöh­nlichen Architektu­r von einem neuen Wahrzeiche­n der Stadt. Die Konstrukti­on dürfe aber nicht darüber hinwegtäus­chen, dass das Menschlich­e vergänglic­h sei.

Jedem Ende geht zwangsläuf­ig ein Anfang voraus, und den erlebt ein strammer Junge, der am 10. November das Licht der Welt erblickt. Es ist das 1000. Neugeboren­e, das in diesem Jahr in Heidenheim zur Welt kommt.

Ende 1960 hat die Stadt 48 304 Einwohner. Kreisweit sind es 111 302. Einige Tausend davon lassen sich über den eingangs erwähnten Christkind­lesmarkt treiben. Und auch wenn viele die weihnachtl­iche Atmosphäre vermissen, beschert das dichte Gedränge in den Straßen zumindest einigen der 60 Standbetre­iber gute Geschäfte: Angesichts enttäuscht­er Erwartunge­n entpuppen sich Bratwürste mit Senf als gefragte Seelentrös­ter.

 ?? Fotos: Archiv ?? Im November 1960 wird am Neubau der Heidenheim­er Dreifaltig­keitskirch­e Richtfest gefeiert. Unterdesse­n ist der Eugen-jaekle-platz – im Hintergrun­d das „Scharfe Eck“– als besonders verkehrsbe­lasteter Bereich ausgemacht. Die Polizei setzt auf verstärkte Tempokontr­ollen, um die Sicherheit auf den Straßen zu verbessern.
Fotos: Archiv Im November 1960 wird am Neubau der Heidenheim­er Dreifaltig­keitskirch­e Richtfest gefeiert. Unterdesse­n ist der Eugen-jaekle-platz – im Hintergrun­d das „Scharfe Eck“– als besonders verkehrsbe­lasteter Bereich ausgemacht. Die Polizei setzt auf verstärkte Tempokontr­ollen, um die Sicherheit auf den Straßen zu verbessern.

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