Bratwurst als Seelentröster
Im Dezember 1960 ist der Heidenheimer Christkindlesmarkt auch nicht mehr das, was er mal war. Etliche weitere Ereignisse geben Anlass zur Sorge. Ein Blick ins Archiv der HZ.
Pfennig für einen kleinen Schokoladen-nikolaus. Ein Heidenheimer Warenhaus lässt sich die Saisonware im Dezember 1960 gut bezahlen. Dafür kommt diese „bunt stannioliert“in schicker Verpackung daher.
Und als Seelentröster taugt sie in den letzten Tagen des sich seinem Ende zuneigenden Jahres allemal, bleiben auf dem Christkindlesmarkt in der Innenstadt jedoch Wünsche unerfüllt. Die Heidenheimer Zeitung schwärmt zwar zunächst: „Der Winter hauchte seinen Atem in unsere Stadt.“Aber postwendend verleiht der Berichterstatter seiner Überraschung darüber Ausdruck, dass kein vorweihnachtlicher Zauber zu erkennen sei. Rote Zipfelmützen gehören nicht zu Weihnachtsmännern, sondern dienen Gartenzwergen als Accessoires, die es an einer Losbude zu gewinnen gibt.
Noch etwas ist anders als sonst: In den öffentlichen Handel gelangen fast keine Weihnachtsbäume aus den Wäldern rings um Heidenheim. „Wir sind froh, wenn uns auf dem kargen Boden die Fichten gedeihen“, erklärt Forstmeister Schröter, weshalb lediglich die Betriebsangehörigen zum Zuge kommen.
Weil zu erwarten ist, dass sich der eine oder andere deshalb im Schutz der Dunkelheit mit Axt und Säge auf die Suche nach seinem persönlichen und obendrein unschlagbar günstigen Exemplar macht, lässt Schröter Sicherheitsstreifen durch die Jungtannenbestände patrouillieren.
Gerüche als Diebstahlschutz
Und er packt die chemische Keule aus: Die Präparierung mit einer unsichtbaren Flüssigkeit soll dafür sorgen, dass ein nicht auszuhaltender Gestank die geheizten Wohnstuben der Baumdiebe durchzieht.
Weitaus schlimmer ist freilich, was sich in der Nacht zum 2. Dezember an der Griesstraße ereignet. Um 1.57 Uhr reißt eine gewaltige Explosion die Menschen im Westen der Stadt aus dem Schlaf. Die Polizei geht rasch davon aus, dass es zu diesem Zeitpunkt eine unheilvolle Begegnung zwischen dem Induktionsfunken eines sich automatisch einschaltenden Kühlschranks und einem offenstehenden Gashahn gibt. Die Außenwände des Obergeschosses stürzen teilweise ein, eine Frau findet in dem Wohngebäude den Tod.
Auf den Straßen ist die Polizei derweil im Dauereinsatz. Am Vormittag des 10. Dezember ereignen sich im Stadtgebiet nach einem plötzlichen Wintereinbruch neun schwere Unfälle innerhalb von drei Stunden. Obwohl die Straßenmeisterei binnen Kurzem 30 Zentner Salz auf den Fahrbahnen verteilt, kracht es im Halbstundentakt.
Sechs Verletzte werden Krankenhaus gebracht, vier ins davon nach einer Kollision auf der spiegelglatten B 19 bei Itzelberg. Verkehrsexperten macht der Zustand der Bundesstraße zwischen Mergelstetten und Herbrechtingen besondere Sorgen.
Auch ohne Eis und Schnee lässt die Griffigkeit der Oberfläche zu wünschen übrig. Messungen ergeben, dass vor allem ein rund 200 Meter langes Teilstück entlang des Zementwerks Schwenk unzureichende Reibewerte aufweist. Oberinspektor Neudert, Chef der Straßenmeisterstelle, trägt deshalb mit seinem Trupp 600 Liter hochkonzentrierte Salzsäure auf.
Salzsäure sorgt für Griffigkeit
Laut HZ frisst sie sich zischend und brodelnd in die Betonschicht ein. Anschließend wird die Straßenoberfläche kräftig mit Wasser abgespült, und „fühlte sich dann etwa so an, als würde man mit der Hand über Schmirgelpapier streichen“.
Die Maßnahme soll dazu beitragen, das Verkehrsgeschehen im Landkreis etwas sicherer zu machen. 1960 sterben dort bei 1422 Unfällen 21 Menschen. Der gesamte Sachschaden beträgt nahezu eine Million Mark.
Der Tod nähere sich mit zunehmender Geschwindigkeit, mahnt die Polizei und setzt deshalb auf eine schärfere Tempoüberwachung.
Brennpunkte des Verkehrsgeschehens im Heidenheimer Stadtgebiet sind der Eugen-jaekle-platz, Haupt- und Wilhelmstraße sowie die B 19.
Absturz bei Weidenstetten
Unterdessen häufen sich Nachrichtenmeldungen, die belegen, dass auch der Flugverkehr Risiken birgt. Am Abend des 17. November stürzt ein Hubschrauber der Us-luftwaffe in ein abgelegenes Waldstück bei Weidenstetten. Einziger Zeuge des Unglücks ist der Heidenheimer Günther Greiner.
Allerdings ist er sich seiner Sache zunächst nicht sicher. Deshalb schildert er seine Beobachtungen – Motorenlärm, eine Stichflamme, Aufschlagsgeräusche und drei Detonationen –, die er aus etwa fünf Kilometern Entfernung macht, erst zwei Tage später der Polizei, nachdem groß angelegte Suchaktionen des amerikanischen Militärs erfolglos geblieben sind und deshalb die Öffentlichkeit um Mithilfe gebeten wird.
Stunden später wird das Wrack der „Bell H 13“entdeckt. Der Wald ringsum hat kaum Schaden genommen. Lediglich der abgeknickte Wipfel einer Buche und ein Birkenstamm liegen am Boden. Der Pilot hat den Absturz nicht überlebt und sitzt noch angeschnallt auf seinem Sitz.
Bei der Suche nach der Unglücksursache verhören Us-militärs, die mit einem Hubschrauber einfliegen und auf dem Vfl-platz in Heidenheim landen, Greiner ausgiebig. Stundenlang muss er seine Wahrnehmungen bis ins kleinste Detail schildern. Hauptkommissar Bofinger nimmt ebenfalls an dem Gespräch teil und lobt die minutiösen Erinnerungen Greiners.
Katastrophe im Schneesturm
Auch überregional machen Flugzeugkatastrophen Schlagzeilen: In einem Schneesturm stoßen über New York zwei Passagiermaschinen zusammen. 138 Menschen sterben, die Trümmer gehen über Staten Island und Brooklyn nieder.
49 Tote und 16 Verletzte sind eine Woche vor dem Heiligen Abend in München zu beklagen, wo eine kurz zuvor am Flughafen Riem gestartete Us-militärmaschine die Türme der Paulskirche streift und unweit der Theresienwiese zerschellt. Neben Passagieren sterben auch Fahrgäste einer Straßenbahn und Passanten.
Und bei Moosburg im Landkreis Freising stürzt am zweiten Weihnachtsfeiertag ein französischer Düsenjäger vom Typ „F 84“ in einen Hopfengarten und explodiert. Der Pilot hat großes Glück und kann sich unverletzt mit dem Fallschirm retten.
Kurz vor dem Jahreswechsel, viele freuen sich schon auf ein farbenprächtiges Feuerwerk, ordnet dann die französische Regierung eine Atombombenexplosion in der Sahara an. Wenig beruhigend wirkt, dass das Unternehmen „Rote Springmaus“Forschungszwecken dienen und aufgrund der geringen Sprengwirkung „schon in Tokio seismografisch nicht mehr wahrnehmbar“sein soll.
Angesichts dieser Nachrichten geht beinahe unter, dass es auch Positives zu vermelden gibt. Aus der Warte eines 60 Jahre später die Nachrichten Verfolgenden spielt sich in den Vereinten Staaten von Amerika Bemerkenswertes ab: Richard Nixon verliert bei den Präsidentschaftswahlen gegen John F. Kennedy, gesteht seine Niederlage ein und gratuliert seinem Amtsnachfolger.
Richtfest am Kirchen-neubau
Grund zur Freude gibt es auch in Heidenheims Westen: Knapp fünf Monate nach der Grundsteinlegung feiert die katholische Kirchengemeinde Richtfest am Rohbau der Dreifaltigkeitskirche. Stadtpfarrer Richard Müller spricht angesichts der außergewöhnlichen Architektur von einem neuen Wahrzeichen der Stadt. Die Konstruktion dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Menschliche vergänglich sei.
Jedem Ende geht zwangsläufig ein Anfang voraus, und den erlebt ein strammer Junge, der am 10. November das Licht der Welt erblickt. Es ist das 1000. Neugeborene, das in diesem Jahr in Heidenheim zur Welt kommt.
Ende 1960 hat die Stadt 48 304 Einwohner. Kreisweit sind es 111 302. Einige Tausend davon lassen sich über den eingangs erwähnten Christkindlesmarkt treiben. Und auch wenn viele die weihnachtliche Atmosphäre vermissen, beschert das dichte Gedränge in den Straßen zumindest einigen der 60 Standbetreiber gute Geschäfte: Angesichts enttäuschter Erwartungen entpuppen sich Bratwürste mit Senf als gefragte Seelentröster.