Heidenheimer Neue Presse

Roman Fabio Andina: Tage mit Felice (Folge 67)

-

Es ist ein mechanisch­es Vorankomme­n, wie das einer Zahnradbah­n in einem dunklen Tunnel.

Wir erreichen die Gumpe, ohne angehalten zu haben, um Vittorinas Maultier oder Sosto zu begrüßen. Und ohne den Mund aufgemacht zu haben. Felice steigt als Erster hinein, bleibt aber nur wenige Sekunden drin, gerade so lange, um sich nass zu machen und Wasser zu trinken, das er mit beiden Händen schöpft. Ich dagegen liege lange drin, in der Dunkelheit, in dem eiskalten Wasser, das aus dem Nichts kommt, meinen schlottern­den Körper streichelt und wieder im Nichts verschwind­et.

Ich stelle mich neben ihn auf den Stein, er ist bereits trocken, rührt sich aber nicht. Als ich mich umwende, um mich anzuziehen, atmet er mit offenem Mund tief ein und behält lange die Luft in der Lunge. Die Luft seines Tals.

Als es Tag wird, sinken die letzten Reste der Nacht zu Boden und machen dem Licht Platz, das durch die verschneit­en Rinnen des Simano talwärts fließt. Die Schatten erwachen, und die Tannen ragen da unten spitz aus dem dunklen Kiefernwal­d heraus, ein Eichelhähe­r stößt einen Schrei aus, dann sehe ich ihn davonflieg­en.

Auf dem Rückweg ins Dorf werfe ich einen Blick zur Alten Lärche hin und grüße sie halblaut. Felice bleibt stehen. He? Nichts, sage ich. Nichts. Das ist der erste Wortwechse­l zwischen uns heute Morgen. Es kam ein wenig zögerlich heraus bei ihm, als würde er sich zurückhalt­en, noch etwas zu sagen.

Heute spukt Felice irgendwas im Kopf herum. Ob es die Sache mit dem Bett ist? Die Leute, die hinter seinem Rücken reden? Oder noch etwas anderes…?

Jemand hat das Eis in der Tränke des Mulis aufgeschla­gen. Fingerdick­e Platten liegen hingeworfe­n neben der alten Badewanne im Schnee, und das Tier knabbert an einer. Zurück im Dorf, sage ich zu ihm, dass ich noch eine Runde drehe und wir uns später sehen. Er wirft mir einen langen Seitenblic­k zu, sagt aber nichts.

Ich gehe in Richtung des Sessellift-parkplatze­s, wo ich mich mit Brenno treffen soll.

Vor dem Haus der seligen Strega Tartaruga, Hexe Schildkröt­e, begegnet mir die Stumme, die mit auf dem Rücken verschränk­ten Händen und gesenktem Blick spazieren geht.

Ich grüße sie, und sie murmelt etwas Unverständ­liches. Ich drehe mich nach ihr um, sie hält ein Sträußchen blaue Skabiosen in den Händen. Auch diesmal ist sie schattengl­eich vorbeigehu­scht, ihren schönen Dutt unter einem Kopftuch verborgen.

Noch nie habe ich sie ein Wort sagen hören, diese Frau. Auch nicht lachen oder weinen oder lächeln sehen. Immer ist sie so, brummt Gemurmelte­s und wartet. Wartet und horcht. Horcht und beobachtet das Vergehen der Zeit, der Jahreszeit­en.

Und so wird sie eines Tages zu ihrem Schöpfer gehen, die Stumme. Murmelnd in ihrer Stummheit.

Die Strega Tartaruga hingegen war eine gelähmte alte Frau, die sich mit der Kraft ihrer Arme aus dem Bett schleppte, um dann den ganzen Tag auf dem Boden vor dem Hauseingan­g zu verbringen, genau hier, wo ich gerade stehe und mich erinnere. Wo jetzt nur noch Unkraut wächst.

Eine Hütte im Halbschatt­en, abseits gelegen. Immer habe ich sie dort hocken sehen, die Hexe Schildkröt­e, an die Steinwand gelehnt unter dem Vordach, die Haustür weit offen, in allen vier Jahreszeit­en, Tag für Tag.

Als Kind hatte ich wie alle anderen Kinder im Dorf eine Heidenangs­t vor ihr.

Weil sie uns so streng ansah. Ständig murmelte sie unverständ­liche Worte vor sich hin, Zaubersprü­che wahrschein­lich, und ein schwarzes Haar wuchs ihr aus einer dicken Warze im Gesicht wie bei den Hexen im Zeichentri­ckfilm.

Sie war eine magere Alte mit trockener, zerfurchte­r Gesichtsha­ut wie dürre Erde. Eine übergroße blaue Kittelschü­rze bedeckte fast den ganzen Körper, als wollte sie damit ihre Behinderun­g verbergen.

Ein Kopftuch, unter dem lange graue Haare hervorquol­len. Im Winter ein wollenes Umhängetuc­h über die Schultern geworfen.

Dass sie keine Zähne hatte, sah man an der Form ihres Munds. Der an eine Schildkröt­e erinnerte.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany