Europäische Erzählung
Es gibt eine Forderung, die der EU schon mehrfach aus der Patsche helfen sollte. „Wir brauchen eine neue Erzählung für Europa“, lautet sie. Dahinter steckt der Gedanke, dass das Zusammenwachsen des Kontinents seiner alten Begründung, nämlich der von Krieg und Frieden, inzwischen entwachsen ist. Helmut Kohl und Francois Mitterrand konnten noch mit einem Handschlag auf dem Gräberfeld von Verdun nicht nur „Erbfeindschaften“überwinden, sondern auch das mitunter frustrierende Klein-klein des täglichen Europageschäfts überwölben. Doch die Vergangenheit allein trägt nicht mehr, heute ist Hinwendung zu Gegenwart und vor allem zur Zukunft gefragt (ohne dass das Klein-klein dabei weniger geworden wäre). Europa, so ungefähr soll die Erzählung gehen, ist der einzige Rahmen, der unseren Wohlstand und unser Wohlergehen der modernen Welt sichern kann.
Zurzeit ist aber für derartige Gedanken zum europäischen Überbau wenig Zeit. Denn im Unterbau ist die Hölle los: Es knirscht gewaltig im Eu-gebälk – und die Verantwortlichen mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an der Spitze haben alle Hände voll zu tun, den Laden zusammenzuhalten.
Dabei ist die letzte große Krise gerade mal ein Jahr her. Geschwächt von Brexit-wirren und Migrations-streit war auch die EU von der pandemischen Welle überrollt worden und angesichts der nationalen Reflexe allerorten – Grenzen dicht, Schutzmaterial beschlagnahmt – schließlich vor sich selbst erschrocken. „Wir haben in den Abgrund geblickt“, lautete anschließend die weitverbreitete Analyse. Geheilt wurde der Schock unter anderem mit sehr viel Geld: dem milliardenschweren Wiederaufbaufonds zum Wohle aller, gemeinsame Schulden in
inklusive. Doch nun häufen sich schon wieder die großen und kleinen Katastrophen. Die Flüchtlingsfrage ist weiter ungeklärt, die Rechtsstaatsfrage auch. Deutschland verärgert die Partner mit der Gaspipeline nach Russland. Der Außenbeauftragte blamiert sich in Moskau. Und in der Hitze der Impfstoff-gefechte holte die Eu-kommission zwischenzeitlich sogar die Artikel-16-keule raus: Grenzkontrollen auf der irischen Insel. Ein Fehler, der zwar umgehend wieder korrigiert wurde, den der gewiefte britische Premier Boris Johnson aber dennoch ausgiebig zu seinen Gunsten nutzen wird. Nein, auf der europäischen
Im Unterbau ist die Hölle los: Es knirscht gewaltig im Eu-gebälk.
Impfstoffbeschaffung liegt kein Segen. Oder, um mit SPD-MANN Olaf Scholz zu sprechen, das Ganze ist bislang „scheiße gelaufen“. Während andere Länder wie die USA, Israel oder Großbritannien Vollgas gaben, verhedderte sich die EU in Preis- und Haftungsfragen.
Es war ja richtig, die Sache europäisch anzugehen. Undenkbar, dass sich die Eu-staaten auf dem Weltmarkt gegenseitig auszustechen versucht hätten. Nur darf das gemeinsame Vorgehen nun nicht als Begründung für die Verzögerungen und Verspätungen angeführt werden. Gemeinsam sind wir stärker, das ist der vielleicht wichtigste Teil der europäischen Erzählung. Ihre Glaubwürdigkeit muss sich auch in Sachen Impfstoffe beweisen.